Zeichnungen in der Wüste
Sie gehört zu den trockensten Regionen der Erde – die Küstenwüste Perus. Der kalte Humboldtstrom im Pazifik verhindert die Wolkenbildung über dem Ozean, was dazu führt, dass es nahezu keine Niederschläge in dieser subtropischen Küstenzone gibt. Die Grundlage für menschliches Leben bilden lediglich die Taloasen der Flüsse, die während der Regenzeit in den Anden für einige Wochen im Jahr Wasser in Richtung Pazifik führen. In den Flussoasen an der Südküste des heutigen Peru entwickelte sich zwischen 200 v.Chr. und 650 n.Chr. eine Kultur, die ihren Namen der kleinen Wüstenstadt Nasca verdankt. Pyramidenartige Tempelanlagen, ausgedehnte Bewässerungssysteme sowie farbenfrohe, formenreiche Keramiken und Textilien zeugen von der künstlerischen und technischen Begabung der Menschen in dieser präkolumbischen Kultur. Eines jedoch fasziniert ganz besonders und wird nicht ohne Grund als das achte Weltwunder bezeichnet – die Bodenzeichnungen in der Pampa von Nasca und Palpa. Sie sind eines der ungelösten Rätsel der Menschheitsgeschichte, einzigartig in der Welt und den Zeugnissen anderer großer Kulturen ebenbürtig.
Wie auf einem überdimensionalen Schnittmusterbogen bedecken zahllose, teils kilometerlange Linien und riesige Flächen in Trapez- und Dreiecksform das Wüstenplateau nordwestlich von Nasca. Dazwischen finden sich immer wieder Darstellungen von Tieren, Pflanzen und geometrischen Formen. Ein besonderes Merkmal dieser Figuren ist ihr Konstruktionsprinzip, denn die meisten von ihnen bestehen aus nur einer, etwa fußbreiten, durchgehenden, sich nicht kreuzenden Linie. Die kleinsten Figuren haben dabei eine Ausdehnung von etwa 20–30 Metern, die größten sind mehrere hundert Meter lang. Dies ist auch der Grund, weshalb sie vom Boden aus nahezu unsichtbar sind. Erst aus der Luft erschließen sie sich dem Auge des Betrachters. Es verwundert also nicht, dass man die Bodenzeichnungen erst Anfang des 20. Jahrhunderts, mit dem Beginn der Luftfahrt, wiederentdeckte.
Die Herstellung der Zeichnungen ist schnell erklärt. Der Wüstenboden in der Pampa ist mit einem erzhaltigen Geröll bedeckt, welches über die Jahrtausende hinweg durch Oxidation eine bräunliche Färbung, den sogenannten „Wüstenlack“, erhielt. Entfernt man diese obere Schicht, so kommt die darunterliegende helle Sedimentschicht des einstigen Meeresbodens kontrastreich zum Vorschein. Dabei sind die Linien und Figuren oft nur wenige Zentimeter tief in den Boden gescharrt, weshalb man sie mitunter auch als Scharrbilder bezeichnet. Aber nicht alle Geoglyphen, wie man die Bodenzeichnungen auch nennt, sind reine Scharrbilder. An einigen Stellen, verstreut über die gesamte Pampa, findet man Geoglyphen, die nicht nur durch das Entfernen sondern auch durch das Aufhäufen von Steinen entstanden sind. Sowohl Linien und Flächen als auch Figuren sind auf diese Art und Weise gefertigt. Bei den oft nur wenige Meter großen Figuren handelt es sich meist um anthropomorphe Darstellungen, in selteneren Fällen Tiere oder abstrakte Formen. Diese Art von Geoglyphen hat ihren Ursprung vermutlich in der Vor-Nasca-Zeit und geht somit auf die ältere Paracas-Kultur (800 bis 200 v.Chr.) zurück. Im Unterschied zu den Nascazeichnungen, die man nur aus der Luft betrachten kann, sind die Paracas-Figuren oft auch vom Boden aus sichtbar, da sie häufig an Hügeln oder Berghängen zu finden sind.
Eines jedoch haben alle diese Geoglyphen gemeinsam. Ihre Vielfalt, Größe und Perfektion beflügeln die Phantasie eines jeden Betrachters und bieten Raum für immer neue Theorien rund um den Mythos von Nasca. Waren diese Darstellungen Teil eines zeremoniellen Rituals, einer Bitte an die Götter um fruchtbare Ernten? Markieren die Linien und Flächen unterirdische Wasservorkommen oder handelt es sich doch um Landebahnen für Extraterrestrische? Oder waren hier einfach Künstler am Werk? Fragen, auf die es bislang keine umfassende Antwort gibt, da weder schriftliche Dokumente noch mündliche Überlieferungen existieren, die Licht in das Dunkel bringen könnten. So erscheint es bis heute eher unwahrscheinlich, dass dieses Rätsel je ganz gelöst wird. Aber gerade das macht die Faszination dieser Zeichnungen in der Wüste aus.
Ein Name ist untrennbar mit den Geoglyphen von Nasca und Palpa verbunden – Maria Reiche. Die aus Dresden stammende Lehrerin für Mathematik, Physik und Geografie hatte im Jahre 1932, als damals 29-Jährige, Deutschland den Rücken gekehrt und eine Stelle als Hauslehrerin beim Deutschen Konsul in Cusco/Peru angenommen. Die Bekanntschaft mit dem amerikanischen Kulturhistoriker und Archäologen Dr. Paul Kosok, der zur Untersuchung alter Bewässerungssysteme nach Peru gekommen war, führte Maria Reiche 1941 erstmals in das Wüstenstädtchen Nasca. Sie war sofort fasziniert von den Zeichnungen in der Wüste, und so kehrte sie 1946, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, offiziell nach Nasca zurück, um die Linien und Figuren näher zu erforschen. Eine kleine Hütte am Rande der Pampa, ohne Wasser und Strom, diente ihr als Unterkunft. Von hier aus begann sie in akribischer Kleinarbeit die Pampa zu erkunden.

Dass die Einheimischen sie als „die Gringa, die die Wüste kehrt“ belächelten, störte sie nicht. Maria Reiche fotografierte, vermaß und dokumentierte im Laufe der Jahre hunderte von Linien und Flächen sowie die meisten der heute bekannten Figuren. Sie setzte sich mit den unterschiedlichsten Deutungen der Geoglyphen auseinander und untersuchte insbesondere die astronomische Theorie von Paul Kosok. Dieser hatte zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende 1941 zufällig die Beobachtung gemacht, dass eine der langen Linien fast exakt in Richtung des Sonnenuntergangs zeigte. Dies legte für ihn die Vermutung nahe, dass es sich bei der Pampa von Nasca um eine Art Kalenderanlage handeln könnte. Maria Reiche folgte dieser Theorie und fand eine Vielzahl weiterer Linien, Flächen und Figuren mit astronomisch relevanter Ausrichtung. Diese könnten, ihrer Ansicht nach, den Schamanen der Nasca-Zeit zur Vorhersage jahreszeitlicher Ereignisse, wie Aussaat und Ernte, gedient haben.
Aber das Verdienst von Maria Reiche liegt nicht allein in der Vermessung, Katalogisierung und Erforschung der Geoglyphen in der Pampa. Jahrzehntelang setzte sie sich vehement für den Schutz der Bodenzeichnungen ein. Denn obgleich von natürlicher Zerstörung weitestgehend verschont, haben infrastrukturelle Maßnahmen, Umweltverschmutzung und Raubgrabungen im Laufe der Jahre ihre Spuren hinterlassen und Teile dieses Kulturerbes bereits für immer zerstört. So verhinderte Maria Reiche 1955 den geplanten Bau eines Bewässerungssystems in der Pampa. In unzähligen Vorträgen und Veröffentlichungen machte sie auf die Gefährdung der Pampa aufmerksam. Mit Unterstützung ihrer Schwester Renate finanzierte sie Wächter für die Pampa und ließ sie einen Aussichtsturm am Rande der Panamericana errichten, von dem aus einige Figuren und Linien zu sehen sind. Auf diese Weise hoffte sie, die zunehmende Zahl von Touristen vom Betreten der Pampa abzuhalten. Dass die Pampa von Nasca und Palpa im Dezember 1994 als Weltkulturerbe unter den Schutz der UNESCO gestellt wurde, ist nicht zuletzt ihr zu verdanken.

Für ihre Verdienste wurde Maria Reiche am Ende ihres Lebens mit den höchsten Auszeichnungen der peruanischen Regierung, der Ehrendoktorwürde mehrerer Universitäten sowie dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Als sie 1998 im Alter von 95 Jahren in Lima stirbt, wird sie in einem Staatsbegräbnis im Garten neben ihrer Hütte am Rande der Pampa beigesetzt.
Um das Erbe Maria Reiches fortzuführen und das Andenken an ihre aufopferungsvolle Arbeit zu bewahren, wurde am 14. Juli 1994 in Dresden der Verein „Dr. Maria Reiche – Linien und Figuren der Nasca-Kultur in Peru“ e.V. gegründet. Hauptanliegen des Vereins ist es, das Lebenswerk Maria Reiches zu erhalten, zu würdigen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Vereinsmitglieder halten daher Vorträge, organisieren Ausstellungen und berichten in der Tages- und Fachpresse über ihre Arbeit.
Ein weiteres Ziel des Vereins besteht in der Fortführung der Forschungsarbeit von Maria Reiche. Aus diesem Grunde wurde im Jahre 1995 das Forschungsprojekt Nasca an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Dresden unter der Leitung von Prof. Dr.-Ing. Bernd Teichert, damals Vizepräsident des Vereins, ins Leben gerufen. Neben der Verifizierung der astronomischen Theorie Maria Reiches besteht die Hauptaufgabe des Projektes darin, die Bodenzeichnungen zumindest in digitaler Form zu erhalten und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn obgleich das Betreten der Pampa inzwischen streng verboten ist, tragen Klimawandel, Bergbau und die Ausdehnung des Siedlungsraumes nach wie vor dazu bei, dass die empfindlichen Bodenzeichnungen von Zerstörung bedroht sind.
Die Voraussetzung für die digitale Erhaltung des Kulturerbes besteht in der exakten Vermessung aller Geoglyphen. Als Grundlage dafür dienen in erster Linie Luft- und Satellitenbilder, zusätzlich fanden jedoch bislang auch zwölf Messkampagnen vor Ort statt. An den Messungen und Auswertungen wirkten neben den Projektmitarbeitern auch Generationen von Studierenden der HTW Dresden, der Beuth Hochschule für Technik Berlin und der Technischen Universität Prag mit. Mittlerweile sind nahezu alle Geoglyphen auf einer Fläche von etwa 2500 Quadratkilometern erfasst. Alle Daten werden in einem sogenannten Geographischen Informationssystem, dem NascaGIS, gespeichert, analysiert und anschließend präsentiert. Die Ergebnisse des Projektes stehen der Öffentlichkeit in Form einer Internetapplikation des NascaGIS zur Verfügung. Den Zugang zur Web-Applikation sowie ausführliche Informationen zum Projekt finden Sie unter: www.htw-dresden.de