EIN GESPRÄCH MIT NATASCHA BURGER, ESTATE BIRGIT JÜRGENSSEN
Wir treffen Natascha Burger, in der Galerie Hubert Winter in Wien, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Seit mittlerweile 12 Jahren ist Natascha Burger hier tätig. Die Initialzündung für die Zusammenarbeit mit der Galerie bot das Engagement Burgers für die kunsthistorische Aufarbeitung des Nachlasses der Künstlerin Birgit Jürgenssen (1949 – 2003, Wien). Danach hat sich ihr Tätigkeitsfeld auch auf die Galerie ausgeweitet. Angesprochen auf ihre Position als Senior Director in der Galerie Hubert Winter, zeigt sie sich zurückhaltend und bezeichnet die Struktur in der Galerie nicht als hierarchisch, sondern als eine familiäre Atmosphäre, in der sich alle entsprechend einbringen. Gemeinsam mit Hubert Winter ist sie für die inhaltliche Ausrichtung und das Programm der Galerie verantwortlich.
Das Werk von Birgit Jürgenssen wird bereits seit 1980 von der Galerie Hubert Winter vertreten. Birgit Jürgenssen ist 2003 an Krebs verstorben und verfügte vor ihrem Tod über ihren künstlerischen Nachlass, dass dieser in die Obhut des langjährigen Lebenspartners und Galeristen Hubert Winter gelangt. Mit Natascha Burger dürfen wir uns über diese umfassende Aufgabe einer kunsthistorischen Nachlassaufarbeitung unterhalten und bekommen durch sie einen Einblick in das sehr komplexe und anspruchsvolle Werk von Birgit Jürgenssen.
Wie haben Sie zu dieser Aufgabe gefunden und welche waren Ihre ersten Schritte?
Natascha Burger: 2009 habe ich begonnen mich dem herausragenden Nachlass von Birgit Jürgenssen zu widmen, mit vielen kleinen autodidaktischen Schritten. Als Kunsthistorikerin habe ich die bestehende Struktur weiter ausgebaut und ein archivrelevantes Gerüst aufgebaut, um einzelne Arbeiten chronologisch und inhaltlich besser zuordnen zu können. Mit heutigem Stand dokumentiert der Nachlass rund 4.500 Arbeiten, aber ich muss gestehen, ich habe noch immer nicht alles gesehen. Beispielsweise sind im Atelier von Birgit noch ca. 10.000 nicht gesichtete Negative.
Birgit Jürgenssen hat also ein umfangreiches Oeuvre hinterlassen?
Birgit war eine eigenwillige, unermüdliche Künstlerin. Sie hat scheinbar Tag und Nacht gearbeitet, hat außerordentlich viel produziert, hat für jede Ausstellung neue Arbeiten geschaffen. Ihre Arbeit ist vielschichtig und von einer enormen Medienviefalt gekennzeichnet. Bereits Mitte der 60er Jahre hat sie mit Zeichnung begonnen und in den 70er Jahren ihre große Leidenschaft der Fotografie intensiviert und dabei viele Techniken autodidaktisch ausprobiert: natürlich die klassische analoge s/w Fotografie, aber auch Polaroids, Cyanotypien, Solarisationen, Rayogramme und vieles mehr. Ihr Werk beinhaltet aber auch Malerei oder Skulptur und sie hat bis zuletzt mit Video experimentiert. Sie war also in der Nutzung der Medien sehr vielschichtig. Aus ihrem Oeuvre ist daher nicht unmittelbar eine Handschrift zu erkennen, da ihr Werk sowohl thematisch als auch medientechnisch sehr breit gefächert ist und daher auch unmöglich eindimensional zu interpretieren. Das ist sicher ein Aspekt, der ihr für eine internationale Karriere zu Lebzeiten auch im Wege stand. Sie hat nie für den Kunstmarkt produziert, sondern nur für sich.
Was war Birgit Jürgenssen für eine Persönlichkeit – in der Nachlassforschung spielt sicher auch das eine Rolle, oder?
Birgit war schüchtern und zurückhaltend, keine extrovertierte Künstlerin, aber durchaus provokant in ihrer Kunst. Birgit hat ihre Fotografien im Atelier alleine mit Selbstauslöser inszeniert, in der eigenen Dunkelkammer dann entwickelt. Sie war über Jahrzehnte an der Akademie als Lehrende tätig und hat stets ihre Studentinnen und Studenten in den Vordergrund gerückt. Ich erzähle Ihnen eine kurze Anekdote zum besseren Verständnis: Harald Szeemann war damals Kurator der Biennale in Venedig und wollte zu Birgit ins Atelier kommen. Statt ihn in ihr eigenes Atelier zu führen, hat sie ihm zwei ihrer Kunststudentinnen vorgestellt, damit diese ihre Arbeiten präsentieren konnten. Birgit selbst war in dieser Beziehung bewusst zurückhaltend, fast scheu. Ihre Karriere ist nun leider eine posthume. Doch durch ihre frühen Reisen nach New York und Paris und der dort gewonnenen Freundschaften und Inspirationen, lassen sich heute sehr gute internationale Referenzpunkte herstellen.

Welcher war ein erster großer Meilenstein im Rahmen der Aufbereitung?
2005/2006 hat die kunsthistorische Aufarbeitung begonnen. 2009/2010 ist dann die erste Monografie gemeinsam mit Gabriele Schor und Abigail Solomon-Godeau publiziert worden. Das war ein wichtiger Schritt. Daraufhin fand auch gleich die erste umfassende Retrospektive im Bank Austria Kunstforum statt und es hat sich in Folge langsam eine internationale Rezeption eingestellt. Aber auch internationale Messen spielen bei der Sichtbarkeit eine entscheidende Rolle. Beispielsweise haben wir Birgits Werk gemeinsam mit Werken von Francesca Woodman auf der Art Basel gezeigt und einige Jahre später auf der Frieze Masters in London. Dort bekam der Nachlass umfassende Aufmerksamkeit. Daraus resultierten Kooperationen mit zwei wichtigen Galerien, und zwar der Fergus McCaffrey Gallery in New York und der Alison Jacques Gallery in London, wodurch sich plötzlich eine enorme Breitenwirkung ergab. Das war für den Nachlass ein bedeutender Fortschritt, plötzlich außerhalb Österreichs eine dementsprechende Aufmerksamkeit zu bekommen. Traditionell sind wir in der Galerie, 10 Jahre lang, immer mit einer Jürgenssen Ausstellung ins neue Jahr gestartet. Um ihr Werk aber in der Kunstgeschichte zu verankern, benötigt man internationale Zugänge. Und ein weiterer wichtiger »Meilenstein« dafür ist vor zwei Jahren dann mit der Kooperation der Galerie von Barbara Gladstone in New York gelungen. Man muss also geduldig sein. Die Sichtbarkeit geht Schritt für Schritt, aber das ist auch gut so, weil der Nachlass und seine Bekanntheit dadurch prägnant und nachhaltig wachsen können.
Aus den renommierten Galerievertretungen ziehen wir den Schluss, dass die Arbeiten aus dem Nachlass veräußert werden, wie schaut die Strategie dazu aus?
Natürlich, der Nachlass muss verkaufen, um das, was hier geleistet wird, auch finanzieren zu können: Publikationen, museale Ausstellungen, die gesamte Nachlassstruktur. In Sachen Verkauf gehen wir überlegt und strategisch vor und entscheiden ganz konkret, welche Werke wohin verkauft werden können. Mit der Sammlung Verbund haben wir beispielsweise ein großartiges Umfeld für Birgit gefunden. Das MoMA hat bereits 13 Arbeiten, aber auch das Centre Pompidou in Paris oder die Tate in London haben einige Arbeiten in ihren Sammlungen. Wir verkaufen auch an bedeutende Privatsammlungen, wie beispielsweise die Sammlung Hainz. Uns ist es wichtig, dass wir Zugriff auf die Werke haben. Mit Bernhard Hainz funktioniert das großartig, er ist ein sehr unkomplizierter Leihgeber und seine Sammlung ist eine der bedeutendsten in Wien, die vor allem auch sichtbar ist. Elisabeth und Bernhard Hainz sammeln mit großer Leidenschaft und Ehrlichkeit, da haben wir für das Werk von Birgit ein sehr gutes neues Zuhause gefunden.
Sie verkaufen also nur bestimmte Werke, oder?
Wir wählen natürlich auch ganz genau aus, was verkauft werden kann und wieviel, denn schließlich soll der Nachlass in seinem Kern bestehen bleiben. Ikonen, wie beispielsweise die bekannte Schuhserie, bleiben im Nachlass. Man kann nicht alles ausverkaufen, sondern muss den Nachlass sensibel betreuen und verwalten. Im Gegenteil, wir kaufen sogar zurück. Beispielsweise haben wir ein frühes Schuhobjekt von einer New Yorker Privatsammlung zurückgekauft oder kaufen auch immer wieder, sofern es uns finanziell möglich ist, Arbeiten auf Auktionen retour. Hier gilt es auch zu berücksichtigen, welche Serie für Birgit welchen Stellenwert hatte, wie sie damit umgegangen ist. Diese Herangehensweise pflegen wir ebenfalls bei der Konzeption der Ausstellungen. Es ist uns ein Anliegen stets bei der Sprache der Künstlerin zu bleiben.
Ein gutes Stichwort: Es gab schon diverse museale Ausstellungen …
Ja. 2018 haben wir in der Kunsthalle Tübingen mit der für uns sehr wichtigen Ausstellungstour der Retrospektive »Ich bin.« begonnen, die dann weiter in das GAMeC nach Bergamo gewandert ist und ein Jahr später ins bedeutende Louisiana Museum of Modern Art in Dänemark. Der Abschluss war dann die wunderbare Präsentation im Weserburg Museum in Bremen.
Im Gespräch mit Ihnen spüren wir, dass diese Aufgabe für Sie mehr ist als nur ein Beruf – Sie fühlen sich sehr eng mit diesem Werk und auch mit Birgit Jürgenssen selbst verbunden.
Es ist eine absolute Herzensangelegenheit. Birgit war eine herausragende und intelligente Frau und die Erforschung von dem, was sie hinterlassen hat, bereichert mich selbst, ich kann so viel dabei lernen. Das Hineinarbeiten lieben Kunsthistoriker, wobei wir einzelne Puzzle-Stücke zusammenführen. Zudem ist Hubert Winter eine ewige Quelle für Antworten und das hat mir enorm geholfen. Ich bin mir der Verantwortung sehr bewusst und es ist außerordentlich auf jemanden zurückgreifen zu können, der einem direkte Auskunft geben kann. Ich empfinde das als ein echtes Privileg.
Also greifen Sie auch auf Weggefährten als Informationsquelle zurück?
Weggefährten sind enorm wichtig und in Birgits Fall auch ihre Notizbücher: Birgit war eine sehr präzise Person, unglaublich belesen und hat vieles notiert. Es sind an die hundert Notizbücher, die sie hinterlassen hat und die ich durcharbeiten durfte. Wenn man darin liest, dann finden sich beispielsweise ihre Gedanken und Auseinandersetzungen mit Philosoph*innen, Ethnolog*innen, darunter dann eine Aufgabenstellung für ihre Student*innen, danach eine Ausstellungsidee, gefolgt von einer Skizze für eine neue Arbeit. Sie hat in Konstellationen gedacht, organische Netzwerke aufgebaut und im Studium dieser Notizen lande ich ausgehend von einer Arbeit aus den 70er Jahren plötzlich bei einer Arbeit von 2003 und verstehe erst richtig diese organische Bewegung, die sie als Künstlerin selbst mitgedacht hat. Es ist wie ein Blick hinter den Vorhang, eine Offenbarung. Diese Bücher sind etwas sehr Intimes und zugleich definieren sie Jürgenssen als eine unglaubliche Schriftstellerin, bibliophile Denkerin und offenbaren ihren individuellen Wissenserwerb
Die Notizbücher spielen auch in den Publikationen eine Rolle?
Ganz genau. Wir haben im Katalog »Birgit Jürgenssen – Ich bin.« auf transparenten Zwischenseiten Auszüge aus den Notizbüchern drucken lassen. Die Leserinnen und Leser bekommen so das Gefühl von dem, was ich soeben erklärt habe; den direkten Zugang sozusagen. Literatur war für Birgit eine unersättliche Leidenschaft und unverzichtbarer Bestandteil ihrer Kunst.
Manches löst sich unter Umständen auch wieder auf, sobald man das gesuchte Puzzlestück findet. Wenn man sich mit einer Künstlerin so tiefgehend auseinandersetzt, ist es sehr interessant, woher die Anregungen kamen. Sie hat u. a. ein ganzes Archiv angelegt, beispielsweise an Zeitungsausschnitten. Von jeder ihrer Arbeiten ist enorm viel ableitbar. Ein Großteil konnte nun durch die Publikationen aufgearbeitet werden, aber es gibt immer noch Geheimnisse und Überraschungen.

Das klingt nach Abwechslung und Spannung in Ihrer Aufgabe?
Das Geflecht ist sehr groß. In jeder Serie, in jedem Jahrzehnt kann man etwas entdecken, das einen berührt. Als Künstlerin finde ich Birgit durch ihre enigmatische und zeitgenössische Art sehr berührend. Für mich ist ihr Nachlass ein Lehrbuch. Wenn ich ihre Notizen und Quellen lese, öffnet das meinen Horizont, legt neue Zugänge und neue Perspektiven frei. Für mich ist es keine Arbeit, sondern Leidenschaft! Dann habe ich auch noch in der Galerie eine wichtige Aufgabe, die mich inhaltlich erfüllt, vorantreibt und Spaß macht. Ich darf beides erleben: Das schnelle und kurz getaktete Galerie-Leben und das ruhige, bedachte in die Tiefe Gehen beim Nachlass. Beides begleitet mich 24h, aber vollkommen positiv.