Das Festhalten der Unbeweglichkeit

Constantin Migliorini

High­speed – Hoch­ge­schwin­dig­keit”: Die Wahr­neh­mung von Sin­nes­rei­zen, die über Zeit und Raum schwebt, sich bewegt und ver­än­dert. Ein Kon­zept, das die Phi­lo­so­phie auf die Exis­tenz als Gren­ze, aber auch als Urhe­ber für eine stö­ren­de – und oft plötz­li­che – Ver­än­de­rung anwen­det. Die Kunst mus natür­lich auf die­se Wahr­neh­mung tref­fen und sich mit ihr aus­ein­an­der­set­zen, um zu ver­mit­teln, wie vie­le die­ser Gedan­ken des welt­li­chen Uni­ver­sums einen eige­nen Rhyth­mus ent­wi­ckeln, was jedoch immer ein epi­pha­ni­sches Geheim­nis blei­ben wird. Geschwin­dig­keit drückt sich jedoch im Raum und auch in der Zeit aus, sie ermit­telt den Zeit­raum, wie die in den Gedich­ten von Peter Hand­ke, was Con­stan­tin Miglio­ri­ni wie folgt defi­niert: „Ich möch­te trotz­dem näher an die Essenz des Zeit­raums her­an­rü­cken, ihn andeu­ten, auf die rich­ti­ge Art und Wei­se dar­über spre­chen und die­se Essenz vibrie­ren las­sen, die mir jedes Mal wie­der neu­en Schwung verleiht.“

Wenn Peter Hand­ke den Wunsch ver­folg­te, die Essenz des Zeit­raums zu ver­sach­li­chen, dann kreu­zen sich also hier die lyri­schen Inspi­ra­tio­nen mit den Wer­ken des tos­ka­ni­schen Künst­lers Con­stan­tin Miglio­ri­ni. Sei­ne Bil­der zeich­nen sich durch eine bei­spiel­haf­te Behand­lung des The­mas aus, als Prot­ago­nist eines Rol­len­spiels, der zum Ele­ment eines Pro­zes­ses wird, der über den kur­zen Dia­log zwi­schen Kon­struk­ti­on und Dekon­struk­ti­on im meta­pho­ri­schen Sinn und dar­über hin­aus aus­ge­löst wird. Sei­ne Sil­hou­et­ten brin­gen über den Aus­druck und die Gram­ma­tik der Kunst gleich­zei­tig den Wert der Dar­stel­lung zum Vor­schein, der seit der Prä­his­to­rik die Bot­schaft des Men­schen über­mit­telt. Auf die­se Wei­se ver­steht man, dass Miglio­ri­ni dar­auf abzielt, die Ver­bin­dung zwi­schen sei­ner Dar­stel­lung und der Tie­fe der Psy­che mit einer Mischung aus uner­gründ­li­chem greif­ba­rem Wert wie­der­zu­ge­ben, der in den Kör­pern dar­ge­stellt wird, die sich beim Über­gang von der Lein­wand ver­viel­fäl­ti­gen, ver­klei­nern, ver­än­dern, und nicht nur zu einer Assem­bla­ge wer­den, son­dern sehr viel kom­ple­xer und tief­grün­dig sind.

Ein Dua­lis­mus nimmt Gestalt an, der die alten Leh­ren über­nimmt, sich jedoch über das bereits Bekann­te hin­aus­wagt. Vor dem Hin­ter­grund der Gemäl­de, den ich als „intel­lek­tu­ell und majes­tä­tisch” zu bezeich­nen wage und der mehr als nur Male­rei ist, hebt sich die Geschich­te der Schön­heit her­vor, die ihrer­seits als Geschich­te der Sin­ne, des Men­schen und des­sen Bezie­hung zur­zeit dar­stellt. Eine Geschich­te, die in dem Maße eine – phi­lo­so­phi­sche und onto­lo­gi­sche – Bedeu­tung hat, wie sie sich über das Leben selbst als Frucht des Lebens dar­stellt. Wäh­rend die klas­si­sche Epo­che lehr­te, dass Schön­heit sofort Merk­ma­le von Maßen, Ord­nung und Pro­por­ti­on annimmt, hat die Moder­ne sich von die­sem Aka­de­mis­mus gelöst und sich selbst intui­tiv davon befreit, indem sie der Figur die Rol­le eines Kon­ti­nu­ums ata­vi­scher Arche­ty­pen, unge­wöhn­li­cher Uni­ver­sen zuord­net, die genau­so ver­al­tet wie inno­va­tiv sind. Male­rei bezieht sich in die­sem Sin­ne heu­te auf das, was Nietz­sche vor­aus­ge­sagt hat, näm­lich, dass Schön­heit die Ent­de­ckung einer neu­en und frucht­ba­ren Mög­lich­keit des Lebens ist; hier fin­det man also die­sen Sinn von Dau­er, den elas­ti­schen Zeit­raum, den auch die Visi­on von Con­stan­tin Miglio­ri­ni vor­schlägt, indem er die neue und frucht­ba­re Mög­lich­keit des Lebens ent­deckt. Hier ist also das Gefühl der Ruhe, der belast­ba­ren Dau­er, das auch die Visi­on von Con­stan­tin Miglio­ri­ni her­vor­bringt, indem sie dem Ver­gan­ge­nen treu bleibt, ohne Erin­ne­run­gen zu hinterlassen.

Die Arbei­ten, die sich auf Miglio­rin­is Stu­di­en bezie­hen, schei­nen die Unbe­weg­lich­keit fest­zu­hal­ten wäh­rend alles ande­re rings­um sich bewegt 

Die Arbei­ten, die sich auf Miglio­rin­is Stu­di­en bezie­hen, schei­nen die Unbe­weg­lich­keit fest­zu­hal­ten wäh­rend alles ande­re rings­um sich bewegt; in einer Diar­chie, die See­len vol­ler Pathos und gleich­zei­ti­ger Eksta­se erzählt, in einer Fusi­on des Wer­tes der Krea­ti­on mit einer bis heu­te uner­klär­ba­ren kos­mi­schen Dimen­si­on. Der Pro­zess des Dia­logs, der durch das Gemäl­de auf der Lein­wand beginnt, wird von einem ästhe­ti­schen Ablauf genährt und kann als Erfah­rung auf der Suche nach Iden­ti­tät defi­niert wer­den, was nicht nur und nicht aus­schließ­lich durch die Beti­telung erklärt wird – und durch die Farb­aus­wahl des Künst­lers – son­dern auch durch die Rekon­struk­ti­on über Frag­men­te. Die­se Frag­men­te, die durch eine sich stän­dig ändern­de bild­li­che und sze­ni­sche Kom­po­si­ti­on erzeugt wer­den, wei­sen eine Wie­der­ho­lung auf, die die Mate­rie im Lau­fe der Zeit, in den Augen­bli­cken und in dem Raum, den sie durch­quert, formt. Die Dau­er, wie sie von Cal­vin ver­stan­den wird, exis­tiert nicht an sich, man muss dar­auf zuge­hen, um sie zu fin­den, da sie durch eine insta­bi­le Ruhe erzeugt wird.

Con­stan­tin Miglio­ri­ni hat die Plu­ra­li­tät der Figur gewählt, die Viel­fäl­tig­keit eines Gesangs der Form, der es gelingt, einen Kodex zu erzeu­gen, der die eige­ne Kon­sis­tenz über­le­ben kann. Die Natur wird in ihrer Stim­mig­keit zur intel­lek­tu­el­len Par­al­le­le in die­sem vom Künst­ler gewähl­ten gra­fi­schen Rät­sel. Er hält das, was kaum sicht­bar ist, in einer Art rea­len Naht fest, die die Lein­wand als Linie durch­quert, und in der er visio­nä­re Ver­mu­tun­gen unter­mau­ert, indem er wie­der­holt und erin­nert. Die Unver­ein­bar­keit von Schein und Wirk­lich­keit wie­der­holt die Unend­lich­keit der Kunst selbst, die der Künst­ler selbst wei­ter­füh­ren möch­te. Con­stan­tin Miglio­rin­is Objek­te stim­men in ihrer viel­fäl­ti­gen Prä­senz ein stil­les Lied an und begin­nen mit einem Rhyth­mus, der die Erzäh­lung ist, einen ansons­ten unaus­sprech­li­chen „Atem“, jen­seits der rei­nen Mime­sis, um nach einer ande­ren und viel kom­ple­xe­ren Aner­ken­nung zu suchen. Raum und Zeit sind daher die Aus­wir­kun­gen einer Hand­lung, die die Stür­ze und Auf­stie­ge der See­le zu pla­nen scheint, die die­se Kör­per zurück­hal­ten. Das Ver­gäng­li­che des Lebens, das Wesen des­sen, was bleibt und sich ändert, grün­det sich auf die Ges­te, die Behand­lung der Ober­flä­che, die sich plötz­lich durch Mul­ti­pli­ka­ti­on defi­niert und den*die Betrachter*in auf eine fast uner­schöpf­li­che Rei­se in die Sin­ne und in das Unter­be­wusst­sein führt.

Con­stan­tin Miglio­ri­ni hin­ter­fragt die unsicht­ba­ren Bil­der der mensch­li­chen Abgrün­de, des tie­fen Gefühls und macht sie durch eine Über­la­ge­rung sicht­bar, die über sym­bol­träch­ti­ge Pri­mor­dia­lis­men einen gekonn­ten, ästhe­ti­schen und mit­rei­ßen­den Pro­zess aus­löst und sich in Nicht-Orten und einer Zeit­bla­se wei­ter­ent­wi­ckelt. Ein schwe­ben­des Uni­ver­sum, das sich jedoch von dem fas­zi­nie­ren lässt, was sich unver­meid­lich ändert, von dem bereits Bekann­ten abweicht, gemäß den Bedin­gun­gen einer wir­beln­den Geschwin­dig­keit, der des Lebens und des­sen Geschich­te, auf­taucht und wächst. Wie die Stu­di­en des Künst­lers zur Male­rei und Mate­rie zei­gen, ist es in Wirk­lich­keit die gesam­te Kunst, die die Ent­wick­lung der Geschwin­dig­keit, das Wis­sen um das Unbe­kann­te, des­sen, was noch vor uns liegt, sowohl in der radi­ka­len Trans­for­ma­ti­on als auch in der unmerk­li­chen Ver­än­de­rung eini­ger, aber grund­le­gen­der Details in sich ver­eint. Dar­über hin­aus stel­len Miglio­rin­is Arbei­ten eine grund­le­gen­de Bezie­hung zur außer­bild­li­chen Mate­rie her, einer kon­ti­nu­ier­li­che Suche nach etwas, das sich in der Unbe­weg­lich­keit der Ober­flä­che noch nicht offen­ba­ren kann.

Ist es nicht die­se kon­ti­nu­ier­li­che Suche, die­se kon­ti­nu­ier­li­che Ver­än­de­rung, um die Stär­ke eines Schlüs­sel­fak­tors zu erzeu­gen, der den Wert der Geschwin­dig­keit und deren not­wen­di­ge Koexis­tenz mit der Unbe­weg­lich­keit defi­niert? Ist es nicht viel­leicht die Mischung – und die ewi­ge Kon­tro­ver­se – zwi­schen Beschleu­ni­gung und Ver­lang­sa­mung, die einen stän­di­gen Dia­log zwi­schen dem Leben und Nicht-Leben her­stellt? Und ist es schließ­lich nicht die Geschwin­dig­keit, die es dem Men­schen ermög­licht, durch die Erzeu­gung phy­si­scher Ver­än­de­run­gen in Raum und Zeit zu wach­sen? Wenn all dies wahr ist, hat die Kunst die Auf­ga­be, die­se Ver­än­de­run­gen von Anfang an wahr­zu­neh­men und sich erfolg­reich zum*zur Vermittler*in des­sen zu machen, was kom­men wird, was sein wird, die­ser Bewe­gung, die evo­lu­tio­nä­re Ver­än­de­rung bedeu­tet und neu­es Leben her­vor­bringt, neue Ideen, neue For­men des Den­kens und der Einstellung.

Daher zei­gen die Wer­ke von Con­stan­tin Miglio­ri­ni im Kon­text eines 2020, das so gefähr­det, so uner­war­tet ist, und gewal­ti­ge Ver­än­de­run­gen mit sich brach­te, wie wich­tig es ist, rund um die Fix­ster­ne und die gol­de­nen Regeln der Kunst eine Ver­än­de­rung zu zeich­nen, eine Spon­ta­ni­tät wie die eines Pin­sel­strichs oder einer Synapsis.

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ist Kunsthistorikerin, Kuratorin und Kritikerin, Senior Partnerin und Kuratorin von Arteprima Progetti. Redakteurin für ArtsLife, Photolux Magazine, Il Denaro, Ottica Contemporanea, Rivista Segno und andere Zeitschriften. Sie untersucht multidisziplinäre künstlerische Projekte mit den Schwerpunkten Fotografie, darstellende Kunst und Videokunst und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des IAR-Projekts, International Artist Residency. Sie gehört zu den Förderern und Unterzeichnern des Art Thinking Manifesto. Seit 2018 ist sie künstlerische Leiterin der Sektion Fotografie des Festivals VinArte und gemeinsam mit Massimo Mattioli Initiatorin des Projekts Imago Murgantia. Darüber hinaus hat sie im Jahr 2020 eine Zusammenarbeit mit der Kanzlei Studio Jaumann srl begonnen, wobei sie die Welt der Kunst mit der des Rechts und des geistigen Eigentums verbindet.

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