„Thought of the world“
„Ist Ihr Hodler echt?“ – „Unser Bonnard scheint es zu sein.“ – „Ach. Wir haben sogar im Bad Lithographien entdeckt, allerdings sehr weit oben. Vermutlich Picasso, die maurische Periode.“ – „Unsere Toilette stammt aus Ohio, Weltpatent 1933. So bequem, dass man gar nicht mehr aufstehen möchte. Eine Art Versäuberungsnirvana.“ – „Oh. Unser Bett ist übrigens von Tagore signiert.“ – „Nicht möglich! Unseres heißt Original Viven Leigh Easy-Type. Mein Mann hat das versteckte Emailschild entdeckt, als er auf dem Boden seine Heilgymnastik trieb.“ So beschreibt Autor Michel Mettler in seiner Kurzgeschichte mit dem Titel „Nachtgäste“ die altbekannte „Zimmerkomparatistik“ nach dem Essen zwischen Gästen im Waldhaus in Sils. Die Kurzgeschichte findet sich im Buch „Wie groß ist die Welt und wie still ist es hier. Geschichten ums Waldhaus in Sils Maria.“ Nicht von ungefähr, dass es bereits mehrere Bücher über das berühmte Waldhaus gibt, denn nach mittlerweile 113 Jahren ist so einiges überliefert und die 4te und 5te Generation des Familienbetriebes hat einiges zu erzählen.
Es ist alles andere als Mythos. Das Waldhaus ist eines der berühmtesten Künstlerhotels unserer Zeit, kein schreiendes, sondern ein ruhiges, ein Rückzugsort, eine Bleibe mit Geist und Charme für Größen wie Richard Strauss, Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Max Reinhardt, Marc Chagall, Otto Klemperer, Max Liebermann, Friedrich Dürrenmatt, Luchino Visconti, Thomas Bernhard, Joseph Beuys, Georg Solti, Peter Handke, Gerhard Richter, Andreas Gursky, Daniel Kehlmann, Thomas Demand, David Chipperfield, Christoph Marthaler, Jonathan Meese … Die Liste könnte noch lange fortgeführt werden.
Warum waren und sind all diese Menschen in Sils Maria im Engadin? Um es herauszufinden, haben auch wir uns selbst auf den Weg ins Engadin gemacht. Das Tal wird vom Inn entwässert, der bei Passau als einziger Schweizer Fluss in die Donau mündet. Die Pässe Julier, Albula und Flüela sowie der Vereina-Tunnel verbinden das Engadin mit dem Norden, der Bernina- und Malojapass mit Oberitalien und der Ofenpass mit dem Vinschgau. Die Dörfer liegen vornehmlich an der sonnigen Nordseite. Schon die Anfahrt ist ein erlebnisreiches Naturschauspiel. Die Erschließung des Engadins mit Bahnen und Skiliften ließ den Wintertourismus ab 1945 stark ansteigen, die Olympischen Winterspiele in St. Moritz 1928 und 1948 sorgten für Bekanntheit – vor allem was den Sport angeht. „Top of the World“ ist in diesem Zusammenhang der Leitsatz, der hier seit Jahrzehnten die Brand-Awareness prägt und über das ganze Engadin strahlt.
Lieber alter Freund, nun bin ich wieder im Ober-Engadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, daß hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist.
Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff, Sils-Maria, Ende Juni 1883
1883, also schon einige Zeit vor den Olympischen Spielen, hat Friedrich Nietzsche Sils Maria im Oberengadin entdeckt. Insgesamt sieben Sommer hat er im Haus der Familie Durisch ein bescheidenes Zimmer bewohnt. „Hier (…) ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden.“, schrieb der wetterfühlige Denker, der unter migräneartigen Kopfschmerzen litt. In Sils Maria ist ein bedeutender Teil von Nietzsches Werk entstanden: Das zweite und Entwürfe zum dritten Buch von „Also sprach Zarathustra“, die Schrift „Jenseits von Gut und Böse“, die Streitschrift „Zur Genealogie der Moral“, die „Götzendämmerung“ und „Der Antichrist“. Das sogenannte Nietzsche Haus ist heute ein Museum, das von der „Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria“ gegründet wurde. Seit Mitte der 80er Jahre werden regelmäßig Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit regionalem und/oder Nietzsche-Bezug im Haus gezeigt. Damit trägt die Stiftung dem Umstand Rechnung, dass Nietzsche wie wohl bisher kein zweiter Denker gerade auch die Künstler immer wieder stark inspiriert und zu produktiver Auseinandersetzung mit seinen Ideen und seiner Person animiert hat. So einige Gäste des Waldhauses begeben sich also auf Nietzsches Spuren.
Dennoch ist das Engadin vielfach noch eher Synonym für Glamour und Reichtum als für Ruhe, Besonnenheit, Künstler und Denker. Oder doch nicht? Im ganzen Tal finden sich kulturelle Hotspots und hochkarätige Zentren für Geistiges, die weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt sind.
Die polnische Unternehmerin und Sammlerin Grazyna Kulczyk, hat 2018 das Muzeum Susch im Unterengadiner Dorf Zuoz eröffnet. Dieser Kunstort ist ziemlich anders als das, was man sonst im kunstaffinen Tal zu sehen bekommt. Der Umbau einer Klosterbrauerei aus dem 12. Jahrhundert spielt mit der besonderen Architektur und beheimatet ein internationales Programm. Bis im Mai ist dort „Body Double“, eine retrospektive Ausstellung der belgischen Pop-Surrealistin Evelyne Axell (1935–1972) zu sehen. Mit ihrem originellen feministischen Ansatz wurde Axell in den 1960er Jahren zu einer der Pionierinnen der Pop Art in Europa.
Zuoz war schon lange vor der Museumseröffnung ein Begriff in der Kunstszene. Dazu beigetragen haben die Initiatoren der Engadin Art Talks Philip Ursprung, Christina Bechtler, Daniel Baumann, Bice Curiger und Hans Ulrich Obrist. Dieses Event ist mittlerweile ein fixer Termin im Kunstkalender und wurde auch heuer in einem digitalen Format durchgeführt. Ganze 12 Stunden wurde aus verschiedensten Orten live gestreamt. Künstler, Architekten, Designer, Schriftsteller und Wissenschaftler teilten ihre Ideen, Gedanken und Projekte rund um das diesjährige Thema: „Longue Durée“. „Longue Durée“ bedeutet wörtlich übersetzt „lange Dauer“ und ist eine Sichtweise auf die Geschichte, die erstmals von dem französischen Historiker Fernand Braudel eingeführt wurde. Braudels „Longue Durée“ erlaubt uns, Krisen als Chancen für einen grundlegenden Strukturwandel zu interpretieren. Die Kunst ist ein Mittel, mit dem wir bestehende Paradigmen umgestalten können, um neue Entdeckungen unterzubringen und neue Realitäten zu schaffen. Auch die Bibliothek aus dem Waldhotel diente hier als Kulisse für ein Gespräch mit Peter Fischli.
Ebenfalls im Unterengadin hat der Künstler Not Vital, der 1948 in Sent geboren wurde, genau dort einen Park erbaut, den „Parkin Not Vital“. In Ardez hat er die „Fundaziun Not Vital“ gegründet, wo er Teile seiner umfangreichen Kunst- und Büchersammlung unterbringt. 2016 erfolgte dann der Kauf des Schlosses Tarasp, drum herum hat er Kunst platziert, etwa eine Turmskulptur. Auch das Muzeum Susch wurde vergangenen Sommer um eine Turmskulptur, dem „Tower for Susch“, von Not Vital bereichert.
Reges Kunsttreiben kann man auch in St. Moritz erleben. Dort sind es vor allem die Galerien, die für ein spannendes Programm sorgen. Etwa die Galerie Karsten Greve, eine der ersten Galerien, die das Engadin als Zweitstandort entdeckte. Gezeigt werden dort aktuell bis Anfang April 23 Arbeiten von Louise Bourgeois, entstanden im Zeitraum von sechs Jahrzehnten. Darunter das frühe Gemälde New Orleans (1946), auf dem eine blaue Frauengestalt im Profil mit einem Strauß Ölzweige in der Hand dominiert. Über der Szene schwebt ein weißes Vogelwesen – wohl eine Friedenstaube. Friedlich stimmt auch die versilberte Bronzearbeit The Welcoming Hands (1996), die aus drei Armen mit Händen besteht, deren Gestik Begrüßung, Schutz und Zuneigung verbildlicht. Die Hommage an eine der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit reflektiert dreißig Jahre intensive Zusammenarbeit der Galerie Karsten Greve mit Louise Bourgeois.
In St. Moritz ist die Galeriendichte hoch, was wohl am Glamour-Faktor und dem entsprechend internationalen kaufkräftigen Publikum liegt. Der globale Player Hauser & Wirth wurde Ende 2018 hier ansässig. Zu sehen gibt es dort bis Ende März Zeichnungen und Gemälde des amerikanischen Malers Philip Guston. Sie veranschaulichen die Hingabe des Künstlers zum unmittelbaren Erlebnis und bewegen sich zwischen einer auf sein Atelier und seine Malutensilien bezogenen Bildsprache und Motiven seiner Frau, der Dichterin Musa McKim, und ihrem gemeinsamen Leben. Diese zutiefst persönlichen Werke eröffnen einen tiefen Einblick in Gustons kreativen Prozess und seine einzigartige, künstlerische Freiheit.
Zunehmend reihen sich auch neue Initiativen in die Engadiner Kunstszene, was wohl auch Beweis für einen fruchtbaren Boden ist. Im Sommer 2020 fand zum ersten Mal die BIENNALE BREGAGLIA unter der künstlerischen Leitung von Luciano Fasciati und der Kuratorinnen Francine Bernasconi und Sarah Wiesendanger statt. Namhafte Schweizer Künstlerinnen und Künstler aus den vier Sprachregionen des Landes wurden eingeladen, mit ihren Werken die Umgebung von Nossa Dona und Lan Müraia zu bespielen. Dieser geschichtsträchtige Ort – in der Mitte des Bergells gelegen – ist seit jeher ein wichtiges Transitgebiet, an dem architektonische, archäologische, kulturhistorische, sprachliche und klimatische Stränge zusammenkommen, die tief in die Vergangenheit reichen, aber auch aktuelle und in die Zukunft gerichtete Themen enthalten. Ziel der Ausstellung, die 2022 wieder stattfinden wird, ist es, einen vielschichtigen Dialog zu schaffen: die Arbeiten sind vom wesentlichen Thema des Mensch-Seins inspiriert und erfragen, wie sich das Mensch-Sein in Geschichte, Natur, Landschaft, Wissenschaft und Sprache spiegelt.
Das Mensch-Sein ist unbestritten auch im Waldhaus Sils ein vordergründiges Thema. Hier darf jeder Gast so sein, wie er eben ist und wie er sich am wohlsten fühlt. Die Weitläufigkeit in den öffentlichen Bereichen bietet viele Möglichkeiten, eine ruhige Ecke zum Lesen, zum Stricken, zum Schreiben oder für ein Brettspiel zu finden. Zum Telefonieren wird einem empfohlen, sich in eine der klassisch-eleganten Handykabinen zurückzuziehen, denn durch Telefonieren würde die Atmosphäre in den charmanten Räumlichkeiten gestört. In der sechs Meter hohen Halle, auf deren Säulen links und rechts ganz unaufdringlich zwei Originalwerke von Gerhard Richter hängen, finden jeden Tag Hauskonzerte statt. Das ist eine der traditionellen Maßnahmen, die ein Gemeinschaftsgefühl unter den Gästen entstehen lässt. Die Familienmitglieder der vierten und fünften Generation legen trotz der Größe des Hauses Wert auf den persönlichen Kontakt zu ihren Gästen, aber gekonnt mit dem notwendigen Gespür dafür, „die Bühne in Ordnung halten, nicht aber mitzuspielen“, erklärt Urs Kienberger, dessen Urgroßvater das Haus 1908 eröffnet hat. Der Urenkel des Gründers hat auch den Slogan des Hauses kreiert: „A Family Affair since 1908.“ Dieser verkörpert eine bestimmte Zweideutigkeit. „Eine Affäre lässt ja immer an etwas Zweideutiges denken. In jedem Familienbetrieb gibt’s zuweilen Ranküne und Streit, auch bei uns. Einig sind wir uns aber darin, den Geist unseres Hotels zu erhalten.“
Dies ist auch beim letzten Neuzubau, dem Wellnessbereich gelungen. In den Felsen hinein gebaut wurde eine weitere Oase der Ruhe und der Erholung. Die puristische Architektur spielt gekonnt mit natürlichen Lichtquellen, für die meterhohe Schächte gebaut wurden. Das absolute Highlight ist der Frischluftraum „unter Tage“. Wenn es draußen schneit, kann man sich von der feinen Eiskristalldusche des Himmels erfrischen lassen. In Sachen Kulinarik setzt das Waldhaus auf authentische Regionalität. Viele der Zulieferer sind kleine Produzenten aus Graubünden. Auch hier ist sich die Familie einig und lebt den Nachhaltigkeitsgedanken: Für den Gast nur das Beste und Natürlichste, was die Region in den jeweiligen Jahreszeiten zu bieten hat.
Auf dieser Reise haben wir die tiefgründige und besonnene Seite des Engadins entdeckt, die unglaublich facettenreich ist und wir verabschieden uns vom Waldhaus mit einem kräftigen Auf Wieder- sehen, denn wir kommen wieder – im Sommer, wenn sich das Tal von seiner saftig grünen Seite zeigt.