Ein philosophisch künstlerischer Exkurs zu Constantin Brâncuși

Wenn man es genau nimmt, ist Refle­xi­on phi­lo­so­phisch betrach­tet ein pro­ble­ma­ti­sches Unter­fan­gen. Skep­ti­ker wür­den mei­nen: ein »no go«. Betrach­tet man es nüch­tern, bedeu­tet es Nach­den­ken über das Nach­den­ken. Aber ist das prü­fen­de, abwä­gen­de Den­ken über das Nach­den­ken geläu­fig­hin »Selbst­re­fle­xi­on«? Wenn man es selbst wäre, über den wir bei der Selbst­re­fle­xi­on nach­zu­den­ken vor­ge­ben, wo bleibt dann der eigent­li­che Denk­vor­gang als Gegen­stand der Refle­xi­on? Es wird qua­si von uns dabei Unmög­li­ches ver­langt, näm­lich: dass wir uns selbst beim Den­ken über die Schul­ter schau­en, um das Reflek­tier­te anschau­lich zu machen.

Die phi­lo­so­phi­sche Tra­di­ti­on sieht dar­in prü­fen­des und ver­glei­chen­des Nach­den­ken über einen Gegen­stand, mag die­ser nun abs­trakt (vor­ge­stellt) sein, oder ganz kon­kret im Sin­ne einer Evi­denz, einer Anschau­ung. Jede Anschau­ung ist indi­vi­du­ell, sub­jek­tiv gefärbt. Man sieht die Welt mit »sei­nen Augen«. Inso­fern ist es schon wahr, dass die­ses Reflek­tie­ren auch eini­ges über sich selbst ver­rät, oder anders aus­ge­drückt, über die Bril­le, mit der wir die Welt betrach­ten. Jede Anschau­ung lie­fert noch kei­ne Erkennt­nis. Aber sie ist reich an Vor­ur­tei­len oder dem, wie wir durch unse­re Denk­mus­ter die Welt inter­pre­tie­ren. Und es ist mit­hin ein Weg, auf dem wir, wie Aris­to­te­les schon erkann­te, glück­lich wer­den kön­nen. Denn in aris­to­te­li­scher Sicht­wei­se ist Glück nicht etwas Mate­ri­el­les, das wir errin­gen, erkämp­fen oder erkau­fen kön­nen, son­dern eher ein Zustand, in dem wir uns frei füh­len kön­nen. Es bedarf einer geis­ti­gen Anstren­gung dazu, dort­hin zu gelan­gen. Von Leib­niz stammt der treff­li­che Satz »Die Refle­xi­on ist nichts ande­res als die Auf­merk­sam­keit auf das, was in uns ist.«Also kein vor­ge­hal­te­ner Spie­gel, denn die­ser wür­de nur das Äußer­li­che reflek­tie­ren, wenn es ande­rer­seits auch stimmt, dass wir von die­sem zutiefst geprägt und in unse­ren Ent­schei­dun­gen abhän­gig sind.

Wenn es wahr ist, dass Refle­xi­on auch Ver­lust des Unmit­tel­ba­ren dar­stellt, uns in unse­rer Natür­lich­keit, unbe­schwert über die­se hin­aus­zu­ge­hen, dar­an hin­dert, schließ­lich tat­säch­lich zu uns selbst zu fin­den, erklärt auch, war­um Rous­se­au mein­te »Der Zustand der Refle­xi­on ist gegen die Natur«. Es war immer schon die Kunst, wel­cher die­ses Dilem­ma zutiefst ver­traut war. Denn im krea­ti­ven Akt der Selbst­ver­wirk­li­chung, den ein Künst­ler setzt, wenn er ein Werk schafft, geht er dar­in über das hin­aus, die Wirk­lich­keit bloß abzu­bil­den (und mit­un­ter für ande­re damit wie­der­erkenn­bar zu machen), und es geht auch nicht dar­um, sei­ne Welt­sicht zu extra­po­lie­ren, son­dern der Künst­ler ver­weist dar­in auf ein Uner­schöpf­li­ches, das jen­seits des Erwart­ba­ren liegt, das wir ver­mei­nen, zu ken­nen. Geor­ges Batail­le nann­te es das Unmög­li­che, in dem wir nicht nur gefan­gen sind, son­dern nach dem wir uns auch intui­tiv seh­nen: »Im Scho­ße der Uner­meß­lich­keit bin ich ein Mehr, das über die­se Uner­meß­lich­keit hin­aus­geht. Mein Glück, ja mein Wesen über­haupt beru­hen auf die­sem Dar­über-Hin­aus. «Und es ist bemer­kens­wert, dass Batail­le die­sen Sehn­suchts­ort des »Gip­fels« in einer ähn­li­chen Wei­se wie Camus in »Der Mythos des Sisyphos«4 die­ses Bezwin­gen des Gip­fels zugleich mit einer abgrün­di­gen Ohn­macht gleich­setzt, sein gesetz­tes Ziel zu errei­chen. Er schreibt: »Der Gip­fel des Ver­stan­des stellt gleich­zei­tig sei­ne Ohn­macht dar. Er ver­flüch­tigt sich: Der Ver­stand des Men­schen läßt sich dadurch defi­nie­ren, daß er ihm ent­glei­tet. Von außer­halb gese­hen ist er nur Schwäche.

Gera­de der Künst­ler, auch unter dem stän­di­gen Druck, das zu reflek­tie­ren, was er gera­de erschafft, erlei­det oft im Unge­nü­gen, an sein gesetz­tes Ziel zu gelan­gen, eine Schmach des Unvoll­ende­ten, was so viel bedeu­tet, wie sein Werk auf­zu­ge­ben, sich von ihm zu tren­nen, es als »final« aus der Hand zu geben (denn er lebt ja davon, das von ihm Geschaf­fe­ne zu ver­kau­fen). Für ihn eine inne­re Erfah­rung, die sich wie ein Riss durch sei­ne ursprüng­li­che Inten­ti­on zieht, Per­fek­tes anzu­stre­ben. Er ist mehr als ande­re Men­schen, die nur ihr Urteil über ihn oder das Geschaf­fe­ne abge­ben, gezwun­gen, die­se Erfah­rung zu leben. Und »nur von innen, gelebt bis zur Trance, ent­hüllt sie sich, wobei sie ver­eint, was das dis­kur­si­ve Den­ken tren­nen muß.

Brân­cuși in Vou­lang­is in Stei­chens Gar­ten, © The estate of Edward Stei­chen / Bild­recht, Wien 2022, Foto: © bpk / CNACMNAM / Edward Steichen

Ein Künst­ler, der sich inten­siv als Pio­nier der moder­nen Plas­tik her­vor­ge­tan hat, sticht hier beson­ders ins Auge, da er nicht nur von ihrer For­men­spra­che her Signal­wir­kung für die Kunst der Gegen­wart hat­te und auf­fäl­lig krea­tiv ans Werk ging, son­dern auch vom Mate­ri­al her und sei­ner Ober­flä­chen­be­hand­lung neue Wege beschritt. Der 1876 in Rumä­ni­en gebo­re­ne Con­stan­tin Brân­cuși, den es völ­lig mit­tel­los nach der Jahr­hun­dert­wen­de nach Paris zog, von dem es damals hieß, es sei das Mek­ka der Kunst, und gera­de recht­zei­tig, als dort die bedeu­tends­te Künst­ler­ko­lo­nie ent­stand, mit Künst­ler-Freun­den wie Picas­so und sogar schon zwei Jah­re frü­her als Modi­glia­ni dort ankam, mit dem er ein Ate­lier am Mont­par­nas­se teil­te. Er stell­te mit die­sem 1907 gemein­sam im »Salon des Indé­pen­dants« aus und wirk­te auf Modi­glia­ni gera­de­zu als Kata­ly­sa­tor, wobei bei­den eine Vor­lie­be für die auf ihre abs­trak­te Form redu­zier­ten Frau­en­köp­fe das größ­te gemein­sa­me Anlie­gen schien, und Modi­glia­ni fast auf einem Schei­de­weg stand, sich für die Skulp­tur oder die Male­rei zu entscheiden.

Ursprüng­lich mit Mate­ria­li­en wie Holz, Gips oder Mar­mor der glat­ten Form des weib­li­chen Kop­fes ver­fal­len, der immer leicht gedreht, lie­gend oder spi­ral­för­mig ver­wun­den zum Mar­ken­zei­chen Brân­cușis wur­de, wie etwa das 1912 geschaf­fe­ne Gips­mo­dell von »Mlle. Peg­o­ny«, oder sei­ne in edlem Metall­glanz schim­mern­de Bron­ce »Schlum­mern­de Muse« von 1909, wir­ken sie trotz aller deko­ra­ti­ven Ste­reo­me­trie nie­mals sta­tisch, son­dern man spürt förm­lich das Leben auch in die­ser ideel­len Schön­heit, in ihrer Zeit­lo­sig­keit der abs­trak­ten Form, die auf den ers­ten Blick das ver­kör­pert, was die­se Zeit reprä­sen­tie­ren will: die Moderne.

Con­stan­tin Brân­cuși, Made­moi­sel­le Poga­ny I, 1912–1913 © Suc­ces­si­on Bran­cu­si – All rights reser­ved Bild­recht, Vien­na 2022, Foto: © bpk / CNAC-MNAM / Phil­ip­pe Migeat 
Con­stan­tin Brân­cuși, Muse endor­mie, um 1909 – 1910 © Suc­ces­si­on Bran­cu­si – All rights reser­ved Bild­recht, Vien­na 2022; Foto: © bpk / CNAC-MNAM/ Adam Rzepka

Brân­cuși war ech­ter Hand­wer­ker im Diens­te der Kunst, und im Gegen­satz zu Rodin, der in sei­nem Ate­lier eine gan­ze Mann­schaft von Gehil­fen für sei­ne Kunst des Model­lie­rens in Ton oder Lehm beschäf­tig­te, um dann die gegos­se­ne Plas­tik als Resul­tat zu erhal­ten, war er über­zeugt, dass nur das direk­te Behau­en des Steins vom aus­füh­ren­den Künst­ler den wah­ren Weg zur Bild­hau­er­kunst wei­se. So ele­men­tar die­se Über­zeu­gung war, so ver­nich­tend auch sei­ne Kri­tik die­ser »Pseu­do­kunst« als »Dreck«, wie Fried­rich Teja Bach schreibt, obwohl auch er in Rodins Ate­lier als Gehil­fe begon­nen hatte.7 Zu stark waren jedoch zuneh­mend die Per­sön­lich­keits­un­ter­schie­de wie auch die Auf­fas­sung von Kunst zwi­schen den bei­den und Brân­cuși ent­schied sich glück­li­cher­wei­se für sei­nen eige­nen Weg.

Dass Brân­cuși sehr zeit­in­ten­siv an sei­nen Wer­ken arbei­te­te, geht schon dar­aus her­vor, dass die­se auf den ers­ten Blick sehr ein­fa­che abs­trak­te Form eines sti­li­sier­ten, gedreh­ten Frau­en­kop­fes ihn zwei Jahr­zehn­te beschäf­tig­te, z. B. in den Augen­par­tien, die erst lang­sam die von ihm gewünsch­te Form erlang­ten. Dabei ver­liert sich jeder illu­sio­nis­ti­sche Effekt zuneh­mend zuguns­ten einer idea­len drei­di­men­sio­na­len Form, die eine nach­voll­zieh­ba­re Ent­ste­hungs­ge­schich­te hat. Aber etwas ganz Beson­de­res zeich­net Brân­cușis hoch­glanz­po­lier­ten gold­far­be­nen Köp­fe aus, die zu rei­ner Form gewor­de­ne Iko­nen sind: das Wech­sel­spiel von Schein und Wirk­lich­keit. Oder wie es in einem Aus­stel­lungs­ka­ta­log von 2013 heißt: »Das Objekt tritt durch die Domi­nanz der Refle­xio­nen in den Hin­ter­grund, es löst sich in ein schein­ba­res Nichts auf.

Der voll­ende­ten Qua­li­tät indus­tri­ell gefer­tig­ter Pro­duk­te fol­gend, tre­ten die spie­geln­den Plas­ti­ken in einen sich stän­dig wan­deln­den Dia­log mit der Umge­bung und den Betrach­tern. Neben der Refle­xi­on las­sen sich Wert­sug­ges­ti­on, Insze­nie­rung, Gla­mour und Feti­schi­sie­rung als wich­ti­ge Kate­go­rien zeit­ge­nös­si­scher Kunst im Span­nungs­feld des Scheins lokalisieren.

Eines der mar­kan­tes­ten Bei­spie­le die­ses Gen­res ist sei­ne »Negres­se Blon­de« von 1926, heu­te im Lem­bruck Muse­um Duis­burg, zu der es drei Jah­re zuvor eine Vor­stu­die in Mar­mor gab. Aber auch das Mumok kann auf eine Ver­si­on II stolz sein, die 1988 erwor­ben wur­de und sich nur mar­gi­nal durch den »Dutch«, den sti­li­sier­ten Flecht­knö­del als zusam­men­ge­dreh­ter Zopf am Haupt der »blon­den Schwar­zen« unter­schei­det. Brân­cuși wur­de 1922 in Mar­seil­le von einem tat­säch­lich exis­tie­ren­den Modell dazu inspi­riert. Der eiför­mi­ge, lang­ge­zo­ge­ne Kopf, der in ers­ter Linie den ihn umge­ben­den Raum wie auch den Betrach­ter reflek­tiert, ver­schmilzt in ein vir­tu­el­les Spie­gel­ka­bi­nett, wo Schein und Wirk­lich­keit oszil­lie­ren. »Durch die spie­geln­de Ober­flä­che wird die Stren­ge der Form betont. Geht man um die Skulp­tur her­um, so zeigt sich aber ein wei­te­rer Effekt der spie­gel­glat­ten Ober­flä­che: Die Refle­xio­nen las­sen die schwe­re­los erschei­nen­de Plas­tik aktiv mit ihrem Umraum in Kom­mu­ni­ka­ti­on tre­ten,« heißt es dort im Erklärungstext.

Con­stan­tin Brân­cuși, Prin­cess X, 1915–1916 © Suc­ces­si­on Bran­cu­si – All rights reser­ved Bild­recht, Vien­na 2022, Foto: © bpk / Phil­adel­phia Muse­um of Art / Art Resour­ce, NY

Glei­ches lässt sich auch von sei­ner 1915 ent­stan­de­nen Bron­ce-Skulp­tur »Prin­cess X« behaup­ten, erst­mals 1920 im Salon des Indé­pen­dants in Paris prä­sen­tiert und heu­te im Phil­adel­phia Muse­um of Art. Sie soll Prin­zes­sin Marie Bona­par­te dar­stel­len, eine eigen­stän­di­ge Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin und gro­ße Unter­stüt­ze­rin Freuds. In Wahr­heit erken­nen alle Betrach­ter dar­in aber nur einen auf Hoch­glanz polier­ten Rie­sen­phal­lus, der für ent­spre­chen­de Furo­re und auch scho­ckier­te Ableh­nung sorg­te. Brân­cușis hoch­glanz­po­lier­te Objek­te leben auch vom Kon­trast der Mate­ria­li­en, etwa, wenn Sockel oder Hals aus rau­em Sand­stein sind, und zie­hen den Betrach­ter in den Bann, um beim Näher­tre­ten dann zu »ver­schwin­den «, sich im Raum auf­zu­lö­sen. Denn der nimmt durch die Spie­ge­lung nur mehr sich selbst wahr. Die meist ova­le Form, an der man nur andeu­tungs­wei­se sti­li­sier­te mensch­li­che Züge erkennt, löst sich in reflek­tier­tes Umfeld auf, das sich per­ma­nent ändert, je nach Per­spek­ti­ve, rund­um­sich­tig in Kom­mu­ni­ka­ti­on mit unse­rer Vor­stel­lung einer idea­len Form. In Wahr­heit sind es Refle­xe, die aus unse­rer See­le kom­men und ins Unend­li­che zurückstrahlen.

Der Arti­kel ist in der Print-Aus­ga­be 3.22 REFLECTION erschienen.

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1954 in Wien geboren, ist Autor und Kunstkritiker. Er studierte Philosophie an der Universität Wien und promovierte 1996 in Philosophie im Hauptfach mit der 600 Seiten Dissertation „Diskontinuität und Seinserfahrung“ bei Prof. Kampits, Prof. Mader und Doz. Vetter. Daneben intensives Studium der Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt italienischer Renaisssance bei den Kunsthistorikern Prof. Rosenauer und Prof. Fillitz sowie Grafik bei Prof. Koschatzky. Interesse an griechischer Mythologie, sowie speziellen Bereichen der Kunstgeschichte, Renaissance- und Barockmalerei, sowie profaner Wandmalerei in Mittelmeerraum- und Süditalien, aber auch zeitgenössischer Kunst.

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