VENUS ÖFFNEN (1): DIE MUTTERLEIB-HÖHLE, DIE MATRIX-VULVA
1994 entdeckten drei Höhlenforscher die Höhle Chauvet Pont-d’Arc in der Ardèche-Schlucht in Südfrankreich und machten damit eines der aus symbolischer und ästhetischer Sicht faszinierendsten Zeugnisse prähistorischer Kunst weltweit bekannt. Ein Beispiel für die Höhlenmalereien des Menschen aus dem Oberen Paläolithikum (Aurignacium), die sich über die 500 Meter erstrecken, die der Ardèche-Fluss im Laufe der Jahrhunderte im Inneren des Berges gegraben hat. Gemälde und Gravuren von hypnotischer Dynamik und magischem Charakter, die verschiedene Tiere in Herden oder einzeln darstellen und aus der Zeit vor 32.000 bis 36.000 Jahren stammen. Die langen durchscheinenden Wände wirken auf die Bewegung der manchmal kaum skizzierten Figuren ein, die je nach Perspektive und Lichtspiel in dem ausgehöhlten Raum zu laufen scheinen.
In dieser urtümlichen Atmosphäre gelangt man zum Heiligtum schlecht-hin, das im letzten Raum steht: Le Pendant au Sorcier oder Pendant der Venus2, ein Anhänger in phallischer nach oben gerichteter Form, auf dem die Feier der Weltentstehung nachgezeichnet ist, ein Schamdreieck, eine mit dem Schwarz von Kohle oder Eisenoxid gezeichnete Vulva, die Farbe der fruchtbaren Erde, des Höhlenschoßes der Göttin, die das Leben her-vorbringt. Unter den Darstellungen des Tierreichs gibt es Punkte, Linien, Blätter, die wie Vulven3 aussehen. Die Chauvet-Höhle ist nicht das einzige Beispiel für die Darstellung des weiblichen (und männlichen) Universums in prähistorischer Zeit durch die Hände der Menschen des Aurignaciums. Die 37.000 Jahre alte Höhle von Abri Castanet in der Dordogne mit eingravierten Darstellungen von Vulven und verschiedenen Tieren wurde zwar erst 2007 entdeckt, zeigt aber, dass Vulva-Darstellungen im Südwesten Frankreichs weit verbreitet und sogar älter als die von Chauvet4 sind. Die Erfahrung der Höhle als konkaver Raum verweist auf die im Inneren anwesende Göttlichkeit: die Höhle als Krater, Grube, Matrix, Vulva. Höhlen gelten als die ältesten Heiligtümer, die in Mythen über Ursprung und Wiedergeburt vorkommen. In der Jungschen Psychologie ist es der Archetyp des mütterlichen Schoßes und der Großen Mutter: »die magische Autorität des Weiblichen, die Weisheit und spirituelle Erhebung, die über die Grenzen des Intellekts hinausgeht; das Wohlwollende, Beschützende, Tolerante; das, was Wachstum, Fruchtbarkeit und Ernährung fördert; die Orte der magischen Verwandlung, der Wiedergeburt; der Instinkt oder der helfende Impuls; das Geheime, Okkulte, Tenebröse; der Abgrund, die Welt der Toten; das Verschlingende, Verführerische, Berauschende; das Angst Erzeugende, Unausweichliche.«5 Es handelt sich um den Archetypus der Göttin, der nach Carl Gustav Jung Elemente der Fürsorge, der Genesis und der Fruchtbarkeit enthält, aber auch ambivalente Elemente, die mit dem Okkulten, dem Verführerischen und Berauschenden verbunden sind. Im Inneren dieser prähistorischen Höhlenwohnungen gibt es zahlreiche Zeugnisse von Zeichnungen und Graffiti, die die Ikonographie der Göttin erzählen, in der die Welterzeugerin nicht als ganze Figur dargestellt ist, sondern die Darstellung sich auf die Teile beschränkt, die mit der Zeugungskraft verbunden sind: Es genügte, eine Vulva in den Felsen zu ritzen, einen Stein zu finden, der einem Schamdreieck ähnelte, oder ein Amulett in Form eines Gesäßes oder einer Brust herzustellen. Das Symbol der Vulva lässt sich vom Oberen Paläolithikum bis ins gesamte Neolithikum zurückverfolgen und ist als Dreieck oder Oval dargestellt, oft zusammen mit Wellen- oder Zickzacklinien.6
In der Werkserie »Vulv’are« von Concetto Pozzati findet man diese urtümliche Atmosphäre der wiederholten Darstellung der weiblichen Genitalien wieder, diesmal auf verschiedenen Trägermedien: auf Holz geschnitzt, auf Leinwand gemalt, auf Papier gezeichnet und auf Leder geschichtet. Pozzati führt uns zurück zum Ursprung der Malerei, zum Ursprung der Welt und des Weiblichen. Trägermedien, welche die Formen verändern, die sich ähnlich wiederholen, aber nie gleich sind nach einer tiefgründigen Bearbeitung, Gestaltung und Schichtung, durch die Öffnungen und Hohlräume, welche Geometrien, Linien und Farben in Beziehung setzen, an die Oberfläche gebracht werden. Ein primitives, aus mehreren Materialien bestehendes Symbol, bei dessen Herstellung auch Heftklammern, Kartonstücke und kleine Dias verwendet wurden, um der Schöpfungsgöttin des Universums zu huldigen.
Pozzati eignet sich die Figur durch die Wiederholung des Bildes an, so wie das Konzept der Aneignung durch die Wiedergabe in der Opferdarstellung, dem Ideogramm der gesamten paläolithischen Kunst, präsent ist. In den Jagdszenen der paläolithischen Malerei werden die von Speeren durchbohrten Tiere zum Eigentum des Menschen gemäß einem Opferzeichen, dem Iktus, das heißt einer Narbe, die durch das wiederholte Werfen von Speeren am figurativen Körper entsteht.7 Damit wird ein Mechanismus in Gang gesetzt, der in erster Linie auf Aneignung und nicht auf Votivgaben oder Religion ausgerichtet ist. Ich mache mir zu eigen, was ich darstelle. Captatio als die Inbesitznahme der Welt durch das Symbol, welches zur Figur wird, die Figur, die sich in einen Akt verwandelt und der Akt in eine Erzeugung des Göttlichen.8 Das Töten ist die absolute Urerfahrung, das Verwunden, Eindringen, Ausweiden: In den primären Zeugnissen der ersten Lebewesen scheint der Akt des Tötens mit den Urimpulsen der Fruchtbarkeit9 verbunden zu sein. Die Wiederholung der Opferhandlung wie auch die Wiederholung des Symbols werden zum Ritual und zur Manifestation des Menschen. Das Symbol als Wunde, als Schnitt und Riss im Körper der Welt, von der Gravur bis zum Graffiti wird das gravierte Symbol mit zunehmender Intensität zum gemalten Symbol.10 Wir sprechen von einem vulvären Schema: In der Intensität der Hand zeigt sich die Wirkung des Berührens, Erhaltens und Besitzens von Energie, Göttlichkeit und Sein. Der von Pozzati verfasste Begleittext zu Vulv’are spricht von Vulvokratie, vom Griechischen ‑κρατία, was allge-mein »Macht, Herrschaft, Machtausübung« bedeutet, Aneignung durch Darstellung: Der Voyeur schaut und besitzt durch seinen Blick.
Vulva, Vulv’are, narrativer Komplex, äußeres Genitalorgan der Frau. Vagina, die in der »Vulgärsprache« u. a. als »Muschi«, »Pussy«, »Möse«, »Fotze« bezeichnet wird. Die aristokratische »Blume des Fleisches« und der »Ursprung der Welt« (Courbet) sind der Vulvokratie gewidmet.
Vulvokratie ist die Bürokratie (Feminismus) der Vulva, wo sie auf ihr Gegenteil trifft: die Phalokratie (Maskulinismus).
Der Gott Eros, Gott der Liebe, der Libido, des Instinkts, des Impulses, des erotischen Antriebs.
Eros als Erosion, wenn nicht gar Korrosion.
Der Voyeur (Schauen ist Besitzen) sah, erlebte mit seiner weit geöffneten und intimen Pupille. Wenn der Maler nicht mehr hinschaut, gibt er sich »vulvierend« seiner Vorstellung hin und träumt sogar mit weit geöffneten Pupillen, weil er befürchtet, dass der Traum beim Einschlafen verschwindet.
Alles surreal, alles gezeichnet, markiert, berührt, gestreichelt… Alles nicht gesehen, aber in der Einbildung bereits geschehen, erlebt.
Es ist nicht »vulvierend« dargestellt, aber lässt erkennen, dass ihm der Vulvageruch anhaftet und die Vulva immer gegenwärtig ist, immer anders, gleich einem Auge, das Trägheit und Hitze umschließt.
Sie, dieses Ding, ist in der Malerei geübt und die Fleischhaftigkeit der Malerei selbst wird zur Vulva der Begierde, die sich in dem warmen rosa Abgrund verliert. Vielleicht nähert sie sich an und verliert sich im »Ursprung der Welt« von 1866.
Concetto Pozzati 2015
MIT DEM BLICK BERÜHREN
Der Ursprung der Welt wird von Pozzati in seinem Text in Bezug auf Vulv’are erwähnt und das Bild von Courbets Meisterwerk aus dem Jahr 1866 war in seinem Atelier während des Entstehungsprozesses dieser jüngsten Werkserie als Bezugspunkt präsent. Ein Werk, das immer wie-der Fragen und Überlegungen zum Thema des Blicks auslöst. Eine Anekdote erzählt, dass Jacques Lacan, der damals im Besitz von Courbets »Der Ursprung der Welt« war, das als Tabu geltende Werk gerne mit einem abstrakten Gemälde bedeckte. Der Dynamik des Voyeurs entsprechend genoss er es, die Reaktionen einiger illustrer Gäste auf die Enthüllung dieses Werkes zu sehen, das die Vulva in ihrer rohen, objektiven Realität zeigt. Als großer Kunstliebhaber gibt uns Lacan in »Die vier Grundkonzepte der Psychoanalyse« eine sublime Betrachtung des Blicks und der Malerei: »Im Auge des Betrachters ist Appetit vorhanden. Dieser Appetit des Auges, den es zu nähren gilt, macht den Wert und den Reiz der Malerei aus. Dieser Wert muss für uns auf einer viel niedrigeren Ebene gesucht werden, als man annimmt, nämlich in dem, was die wahre Funktion des Organs Auge ist, dem Auge voller Begierde, welches das böse Auge ist.«11 Das Auge sieht nicht nur, sondern berührt und hört das Sichtbare nach einer synästhetischen Vorstellung, die es dem Blick erlaubt, zu streicheln, zu trinken und zu schmecken. Proust schrieb, dass »eine Vision nicht nur unsere Blicke anspricht, sondern tiefere Wahrnehmungen erfordert und über unser ganzes Wesen verfügt«. Der Psychoanalyse zufolge ist das Auge vielschichtig sensibel, sensorisch transversal im Körper und zwischen den Sinnen.12 Ausgehend von Sartres Thesen zum Blick, stellt Lacan die Kluft zwischen Auge und Blick in den Mittelpunkt seiner Aussagen, die Trennung, die besteht und die in der umgekehrten Struktur des Blicks begründet ist: Sich selbst schauen sehen, von dem, was man anschaut, gesehen werden. Das Schauspiel der Welt erscheint uns in diesem Sinne als Omnivoyeur.13 Was verborgen bleibt, ist somit eine Per-Version der Welt: ihr Voyeurismus. Dieses Schauen, das sich nicht zeigt, lässt sich sowohl auf die Dimension der Träume als auch auf den Bereich der Malerei zurückführen. Nach Merleau-Ponty ist der Maler nicht derjenige, der sieht und sichtbar macht, sondern derjenige, der sich gesehen fühlt, und er nennt dieses Gesehenwerden das »Sehen der Ursprünge«, das nur durch die malerischen Gesten des Künstlers möglich ist.14 Die Essenz der Malerei liegt in der Materialität des Bildes, die in Bezug auf den Körper als »Berührung« gedacht werden soll.15
Das Auge und der Blick sind zentrale Elemente in Pozzatis »Vulv’are«: das Auge des Voyeurs, der mit offenen Augen träumt. Der Blick sieht in diesem Fall nicht nur, sondern stellt sich vor, träumt und kann berühren, streicheln. Pozzatis Auge, das im Zentrum seiner Werke steht, ist allgegenwärtig und allsehend. Es verändert sich entsprechend den grafischen und symbolischen Regeln, die es zu einem Logo machen, und verwandelt sich manchmal in ein unzugängliches Schloss oder ein gesperrtes Vorhängeschloss. Vulv’are entspricht der Deklination eines Verbs, einer Handlung, die der Tatsache des Schauens gewidmet ist. Doch wenn der Maler nicht mehr sehen kann, verlagert sich sein Blick auf eine traumhafte, phantasievolle Ebene, die es ihm erlaubt, mit weit geöffneten Augen zu träumen.
1 Mit Bezug auf „Aprire Venere: Nudità, sogno, crudeltà“ von Georges Didi-Huberman,
Abscondita, Mailand, 2014;
2 Meisterhaft erforscht in Julien Blaines zwanzigjährigem Werk, gesammelt in „La
Cinquième feuille, aux sources de l’écriture et du dire“, Julien Blaine, herausgegeben von Gilles Suzanne, Les Presses du réel / Al Dante, Dijon, 2020.
3 Meisterhaft erforscht in Julien Blaines zwanzigjährigem Werk, gesammelt in „La Cinquième feuille, aux sources de l’écriture et du dire“, Julien Blaine, herausgegeben von Gilles Suzanne, Les Presses du réel / Al Dante, Dijon, 2020.
4 Aus dem Artikel „Context and dating of Aurignacian vulvar representations from Abri
Castanet, France“, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States
of America Bd. 109, Nr. 22 (29. Mai 2012), S. 8450–8455.
5 Jung, C. G., „L’archetipo della madre“, Bollati Boringhieri, Turin, 1981.
6 Gimbutas, M., „La civiltà della Dea. Il mondo dell’antica Europa Vol. 2“, Stampa Alternativa/
Nuovi equilibri, Tarquinia, 2013, S. 11.
7 Villa, E., „L’arte dell’uomo primordiale“, Abscondita, Mailand, 2015, S. 30.
8 Ebd., S. 41.
9 Ebd., S. 23
10 Ebd., S. 31
11 Lacan, J., „Libro XI. I Quattro Concetti Fondamentali della Psicoanalisi 1964“, Einaudi,
Turin, 1979, S. 16–17.
12 Gambazzi, P., „L’occhio e il suo inconscio“, Raffaello Cortina Editore, Mailand, 1999, S. 2–3. 13 Ebd., S. 131.
14 Ebd., S. 180
15 Ebd., S. 190.