Performance ist eine eigenständige Kunstform, und die Fotografie ist ihr ständiger Begleiter. Die Aktion eines Menschen vor der Kamera kann bewusst oder unbewusst geschehen, sie kann choreografiert oder nur zufällig beobachtet worden sein. In dieser Gruppenausstellung werden erstmals zeitgenössische Fotosequenzen vereint, deren Ursprung in Performances, in Tanz- und Bühnengeschehen liegen, ergänzt durch konzeptionelle Bildserien. Stets steht der Mensch und sein Körper im Mittelpunkt, und der Fotograf oder die Fotografin hat die jeweilige Aktion dokumentiert oder interpretiert, mitunter sogar initiiert. Die Verbindung zwischen Performance, Happening oder künstlerischer Aktion einerseits und der Fotografie andererseits besteht seit vielen Jahrzehnten, von den Dadaisten und Surrealisten über die Wiener Aktionisten bis zu den aktuellen Körperinszenierungen im öffentlichen Raum eines Spencer Tunick.
Eine für Helmut Newtons Werk relativ unbekannt gebliebene Serie, die über viele Jahre in Monte Carlo entstand, umfasst Aufnahmen des dortigen Balletts für Programmzeitschriften und Sonderpublikationen, von denen er jedoch nur wenige Motive in eigene Ausstellungen aufnahm. Diese Werkgruppe bildet den Ausgangspunkt für die Gruppenausstellung. Newton schlüpfte in die Rolle eines Theaterregisseurs und begleitete die Tänzer und Tänzerinnen auch jenseits der Bühne, auf den Straßen Monacos oder auf den Treppenstufen hinter dem berühmten Casino; und er inszenierte eine nackte Tänzerin nahe einem Notausgang im Theatergebäude. So deklinierte er auch mit dem Ballet de Monte Carlo eine Kompositionsidee durch, die unnachahmlich für sein Werk steht: Naked and Dressed.
Das begegnet uns ebenfalls bei Bernd Uhlig, der seit vielen Jahren die Choreografien von Sasha Waltz fotografisch begleitet. Diese werden nicht nur auf der klassischen Theaterbühne aufgeführt, sondern auch in Museen in Berlin oder Rom. In der jahrelangen Zusammenarbeit von Uhlig und Waltz findet die visuelle Materialisierung der genuin flüchtigen Kunstform Tanz eine geradezu kongeniale Verbindung. Während Uhlig früher auf längere Belichtungen und entsprechende Bewegungsspuren in der (analogen) Fotografie setzte, zeigt er uns hier einerseits nahansichtige eingefrorene Gesten, andererseits das gesamte Bühnengeschehen im Sekundenbruchteil.
Die italienische Künstlerin Vanessa Beecroft stellt in großangelegten Performances in Galerien und Museen nackte oder spärlich bekleidete Frauen auf und aus. Sie bilden stehend oder hockend eine Art Formation, und sie bewegen sich während der stundenlangen Aktionen nur in Zeitlupengeschwindigkeit. Beecroft dokumentiert diese bewegte Bewegungslosigkeit fotografisch und transportiert den Prozess über mehrere Arbeitsbilder ins statische Bild; in der aktuellen Ausstellung sehen wir ihre Performance VB 55, die 2005 in der Berliner Nationalgalerie stattfand, anhand lebensgroßer Fotografien. Die Künstlerin identifiziert sich mit ihren Protagonistinnen, sie werden zu einem multiplen Alter Ego, denen sie einzig einen natürlichen Gesichtsausdruck und eine ebensolche Körperhaltung abverlangt.
Jürgen Klauke hat in seiner „Viva España“-Serie aus dem Jahr 1976 dagegen nur zwei Menschen interagieren lassen; einen Mann und eine Frau, die auf einer dunklen Bühne einen sonderbaren Tanz aufführen. Und diesem ist – durchaus üblich für manche spanischen oder südamerikanischen Tänze – eine Prise Verführung oder Erotik eigen. Von den beiden Protagonisten sehen wir nur die bekleideten Körper: Der Mann steht, die Frau wirbelt kopfüber gleichsam um ihn herum, eine surreale Situation. Die sukzessive Beobachtung führt schließlich zur Illusion einer Bewegung. Klauke lässt die Körper von Mann und Frau gleichsam verschmelzen, ähnlich wie er es zeitgleich in zahlreichen Travestie-Selbstporträts realisiert hat.
Erwin Wurm geht einen absurd-humoristischen Schritt weiter als Klauke, wenn er einzelne Menschen um eine Miniperformance vor der Kamera bittet. Sie machen die Straße und beliebige Innenräume mit entsprechend interaktiven Objekten zu einer Bühne für Wurms „One Minute Sculptures“. Auch hier entsteht zunächst eine Art Performance, die sich dann im Medium Fotografie manifestiert. Wir sehen kuriose Verrenkungen und Verdrehungen, die Wurm sich für die Mitspieler ausdenkt; nicht immer gelingen die Versuche, auf schmalen Flächen zu liegen, den Kopf in eine Mauer zu stecken oder zwei Tassen auf dem Rücken liegend und auf den ausgestreckten Beinen zu balancieren. Das kennen insbesondere diejenigen, die sich selbst schon einmal auf die ungewöhnlichen Versuchsanordnungen von Erwin Wurm eingelassen haben.
Barbara Probst überrascht seit Jahren mit einer unvergleichlichen, spielerisch experimentellen Mischung aus klassischer Straßenfotografie, Porträt, Stillleben und neuerdings auch Mode. Ihre Aufnahmen arrangiert sie zu Diptychen, Triptychen und gelegentlich zu wandfüllenden Tableaus bestehend aus einem Dutzend Einzelbildern; sie tragen stets den gleichen Titel, „Exposures“, versehen mit einer Bildnummer und dem minutengenauen Aufnahmedatum. Probst fotografiert, vor allem in München und New York, ein und dieselbe Situation mit mehreren Kameras aus unterschiedlichen Blickwinkeln exakt zeitgleich, mittels Radiowellen sekundengenau ausgelöst. Die räumliche Multiperspektivität wird an der Wand eines Ausstellungsraums gewissermaßen wieder in die Fläche zurückgeklappt.
Auch Viviane Sassen arbeitet in erster Linie mit dem menschlichen Körper. Diesen verdreht sie gelegentlich aufs Äußerste für ihre experimentellen Modebilder. Die Modelle werden von ihr eigenwillig choreografiert und inszeniert, beispielsweise farbig bemalt, verschattet, gespiegelt, durch Gegenstände überlagert und zumeist in fotografischen An- und Ausschnitten entindividualisiert. Gelegentlich kehrt sie sogar das allgemein gültige statische Gefüge von oben und unten um, was zu einer gewissen Orientierungslosigkeit bei der Bildbetrachtung führt. Sassen fordert uns und unsere Wahrnehmung heraus. Als ehemaliges Fotomodell kennt sie beide Seiten, vor und hinter der Kamera, und mit der eigenen Arbeit gewinnt sie, wie sie einmal in einem Interview äußerte, die Macht über den eigenen Körper zurück.
Inez & Vinoodh irritieren seit den 1990er-Jahren die Modebildwelt mit surrealen Körperbildern, mit teilweise durch Bildmanipulationen entstandene Verschmelzungen von Menschen und Puppen oder von Männern und Frauen. Inez & Vinoodh erweitern nicht nur gängige Darstellungsmodi, sondern sprengen mitunter die Grenzen der Realität. Zuweilen entscheiden sie sich für die radikale Veränderung oder Verbindung der Geschlechter und Hautfarben der Protagonist* innen. Sie zeigen die Grenzüberschreitung als solche auf und platzieren ihre visuellen Provokationen subtil, aber bewusst „innerhalb des Systems“. So verzaubern und verstören sie uns immer wieder aufs Neue
Irritationen begegnen uns ebenfalls bei Cindy Sherman, und zwar bereits in der frühen kleinformatigen Schwarz-Weiß-Serie „Untitled Film Stills“, in der sie Ende der 1970er-Jahre wie eine Schauspielerin in immer neue Rollen zu schlüpfen schien. Es sind unspektakuläre Alltagsbeobachtungen, die jedoch bewusst inszeniert sind, mit sich selbst als Akteurin. Die Idee des Rollenspiels setzt sie später fort, wobei sie sich in den farbigen, unbetitelten Selbstporträts aus dem Jahr 2000 auch schon mal hinter dicken Schminkschichten und Perücken, Masken oder Brustprothesen versteckt. Im Spiel mit Veränderung, Camouflage und Repräsentanz zitiert Sherman natürlich auch das Medium Film, und so wirken manche dieser Porträts wie Standbilder einer alternden Schauspielerin in einem (nicht gedrehten) Spielfilm.
Yang Fudongs Schwarz-Weiß-Fotografie ist ebenfalls inspiriert vom Medium Film, konkret vom Film Noir der 1960er/70er-Jahre und von den noch früheren Shanghai-Filmen. Fudong scheint mit seinen melancholisch anmutenden Aktaufnahmen eine zeitlose Vergangenheit zu beschwören; auch in seinen Filmen begegnet uns eine vergleichbar rätselhafte Narration. Nacktheit so offen zu zeigen, gilt heute in großen Teilen der chinesischen Gesellschaft noch immer als provokant. In Fudongs „New Woman“-Serie sitzen oder stehen einzelne oder mehrere nackte Frauen auf einer zugleich spärlich und luxuriös ausgestatteten Studio-Bühne. Die weiblichen Modelle – im statischen Bild und im gleichnamigen Film – erinnern auch an Brassaïs Porträts von Prostituierten aus dem Paris der 1930er-Jahre, die eine wichtige Inspirationsquelle wiederum für Newtons spätere, ambivalente Modefotografien waren. So schließt sich hier über Kulturgrenzen hinweg ein Kreis.
Robert Longo fotografierte „Men in the Cities“, die er später in großformatige Kohlezeichnungen übersetzte, Ende der 1970er-Jahre auf einem Hochhausdach in New York. Wir sehen Menschen in unnatürlichen Verrenkungen, deren Bewegungen visuell eingefroren sind; es könnten wilde Tänze sein oder Zitate aus amerikanischen Western, aus Kriegs- oder Gangsterfilmen, etwa wenn einer der Protagonisten im Kugelhagel stirbt. Und tatsächlich war es eine solche Szene aus Rainer Werner Fassbinders „Der amerikanische Soldat“ von 1970, der Longo zu dieser performativen Bildserie inspirierte. Auf dem Dach seines Lofts ließ Longo die Modelle schwingenden oder geworfenen Gegenständen ausweichen und nahm sie auf, während sie zu Boden sanken oder sich dort krümmten.
Robert Mapplethorpe fotografierte 1980 nur eine Person, nämlich die ehemalige Bodybuilding-Weltmeisterin Lisa Lyon, die sich selbst als Bildhauerin des eigenen Körpers bezeichnete; hier sieht man sie im Körperanschnitt auf einem Felsen liegend, aufgenommen im kalifornischen Joshua-Tree-Nationalpark. Die Härte des Steines konterkariert einerseits die weiche Haut und korrespondiert andererseits mit Lyons muskulösen Beinen. Mapplethorpe zeigt uns in dem ungewöhnlichen Freiluft-Setting eine Art Ballett-Choreografie. Alles kann zu einer Bühne werden, zu einem Wechselspiel zwischen Sehen und Gesehen-Werden. Newton fotografierte Lyon etwa zeitgleich in Paris und Kalifornien. Mit dieser im wahrsten Wortsinn „starken Frau“ schließt sich hier ein weiterer Kreis.