Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Bewahrung des Feuers
Sie stellt sich allen, die die Schwelle des Ateliers überschreiten, stets als einfache Handwerkerin vor. Marta Cucchia ist Textilhandwerkerin, das stimmt, aber auch Innenarchitektin (mit einem Abschluss des Europäischen Instituts für Design in Mailand) und Unternehmerin durch Zufall. Vor allem aber hat diese entschlossene Frau eine große Verantwortung geerbt: die Tradition des umbrischen Textilhandwerks am Leben zu erhalten. Sie hat sich dieser Mission bereitwillig angenommen, indem sie in die Fußstapfen ihrer Mutter Clara Baldelli Bombelli und Großmutter Eleonora tritt und so die Absichten ihrer Urgroßmutter Giuditta Brozzetti weiterführt; sie war es, die alles erdachte und dem nun hundert Jahre alten Unternehmen ihren Namen gab. Mehr als nur ein Textilunternehmen zu erhalten und weiterzugeben, sondern einen authentischen Lebensstil, das war die Herausforderung für jede von ihnen.
Wenn man die erste Franziskanerkirche von Perugia betritt, die heute das Museum-Atelier für Handweberei beherbergt, in dem Stoffe gewebt werden, die mit den Traditionen Umbriens aus dem Mittelalter und der Renaissance verbunden sind, fühlt man sich wie in die Vergangenheit versetzt. Sich für einen Moment auf den Gipfeln der historischen umbrischen Stadt in einer Zeitblase zu befinden, die völlig aus der Zeit gefallen ist, unterbrochen nur vom Geräusch der Webstühle, ist eine überraschende und einzigartige Erfahrung. Die Möglichkeit, »hinter die Kulissen« des Projekts zu blicken und seine technische, historische und soziale Dimension kennenzulernen, verleiht der Begegnung noch mehr Bedeutung.
Das Geschäft hat sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckt, und der Faden hätte mehr als einmal, nämlich bei jeder Übergabe, reißen können. Als Marta 1995 den Betrieb übernahm und den Traum ihrer Eltern verwirklichte, indem sie die Werkstatt in die Kirche San Francesco alle Donne aus dem 13. Jahrhundert verlegte, erhob sich der Phönix erneut aus seiner Asche. Dieses materielle und immaterielle Erbe, das von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde, ist eng mit dem Leben von mindestens vier Generationen von Frauen verwoben. Die Tatsache, dass sich das Unternehmen heute in der Kirche »San Francesco delle Donne« befindet (so genannt, weil der Klosterkomplex von Benediktinerinnen bewohnt wurde), ist eine Ode an all die Frauen, die mit Leidenschaft, Energie, Kreativität und Arbeitskraft an diesem Werk mitgewirkt haben.
Mit den Worten von Clara, Martas Mutter: »Wir (Frauen) haben immer die kulturelle Seite bevorzugt […] Wenn es einen Mann gegeben hätte, hätte er die Webstühle mit der Zeit mechanisiert.« Diese Aussage unterstreicht zweifelsohne die tiefgreifende Absicht der ursprünglichen Idee. Während eine alte umbrische Textiltradition wiedergeboren wurde, erlaubte man den Frauen gleichzeitig, durch ihre Arbeit wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Im Jahr 1921, im Rahmen der künstlerischen Wiedergeburt, war diese Pionierleistung zugunsten der weiblichen Emanzipation das Lebenselixier der Werkstattschule und der weit verbreiteten Zusammenarbeit.
Wenn Marta von den Anfängen des Unternehmens erzählt, kommen einem Bilder aus anderen Zeiten in Schwarz-Weiß in den Sinn. »Giuditta, die Lehrerin war, wurde während des Ersten Weltkriegs zur Direktorin der Grundschulen in Perugia ernannt. Diese Arbeit gab ihr die Möglichkeit, mit der Kutsche Dörfer und Städte auf dem perugischen Land zu besuchen, wo sie oft das rhythmische Schlagen der Webstühle hörte. Von hier aus lernte sie das Produkt dieser Arbeit kennen und wurde eine erfahrene Wertschätzerin.« Nach Beendigung des Krieges trat sie von ihrem Posten als Direktorin zurück und eröffnete 1921 die Werkstatt-Schule für Handweberei, wodurch die rustikale Weberei, die in der Grafschaft überlebt hatte, wieder zum Leben erweckt wurde. Damals webten die Frauen zu Hause für ihre Familie und in einigen Fällen auch, um Tauschwaren herzustellen. »Sie erwarb Jacquard-Webstühle aus dem 19. Jahrhundert, um die fantastischen dekorativen Motive aus dem Mittelalter und der Renaissance zu reproduzieren, die man auf den »perugischen Tischdecken«, Gemälden und Fresken findet. Mit Hilfe von Bruno da Osimo, einem berühmten Künstler und Holzschnitzer der damaligen Zeit, führte sie umfangreiche ikonographische Untersuchungen durch.«
Im Zuge der mit William Morris in Europa entstandenen Arts-and-Crafts-Bewegung, deren Ziel es war, die alten, so genannten kleinen Künste im Gegensatz zum Fortschritt des Industriezeitalters zu bewahren und zu pflegen, hat das umbrische Kunsthandwerk ein wahres Bestiarium der Fantasie vor dem Vergessen bewahrt. Von der Natur oder der Mythologie inspirierte Motive, die auf das Mittelalter und die Renaissance zurückgehen, erstrahlten in Umbrien in neuem Glanz, wo die so genannten »perugischen Tischtücher«, die in Italien und darüber hinaus geschätzt wurden, vom 13. bis zum 16. Jahrhundert großen Ruhm genossen hatten. Sie werden von den Meistern der Malerei wie Simone Martini bis Pietro Lorenzetti, von Giotto bis Ghirlandaio und Leonardo da Vinci reproduziert. Diese Artefakte zeichnen sich durch ein blau gestreiftes Dekor auf elfenbeinfarbenem Grund aus, in dem sich Bänder mit anthropomorphen und zoomorphen Figuren abwechseln, unterbrochen von pflanzlichen Ornamenten und architektonischen Elementen, darunter Türme und Brunnen.
Dieses Vokabular, das von Giuditta für Möbelstoffe neu interpretiert wurde, wurde dann unter der Leitung ihrer Tochter Eleonora durch eine von ihr selbst entworfene Bekleidungslinie bereichert, die das Unternehmen für neue Arten von Designs und Farben öffnete. Clara, die dritte Generation, hat sich auf die Reproduktion neuer Designs unter Berücksichtigung historischer Quellen spezialisiert. Sie besuchte Fachbibliotheken und Museen in der ganzen Welt und wurde so zu einer echten Expertin für »perugische Tischdecken«. Claras Tochter Marta, die den Webern bei der Arbeit zusah und den Rhythmus der Webstühle beobachtete, hat sich diese alten Gesten zu 3eigen gemacht. Sie wurde später die erste Weberin der Familie und kreiert heute ungewöhnliche Stil- und Farbkombinationen oder interpretiert Stoffe neu, die von Meistern der Renaissance gemalt wurden. Wann immer sie kann, setzt sich die Unternehmerin auf den Pedalrahmen aus dem 18. Jahrhundert, wenn sie nicht gerade die zahlreichen Besucher (7000 pro Jahr vor COVID) empfängt oder die personalisierten Bestellungen bearbeitet, die sie aus der ganzen Welt über die Website erhalten hat und die sie von den Gesprächen mit der Madonna mit Kind von Pinturicchio oder der Heiligen Familie von Signorelli ablenken.
Seit sie am 28. März 1995, ihrem Geburtstag, aus Mailand zurückkehrte, um die Werkstatt zu übernehmen, hat sie nicht aufgehört, Projekte zu koordinieren und ihre Träume zu verwirklichen. Eine der größten Herausforderungen waren die Verlagerung und der autodidaktische Wiederaufbau von sieben Jacquardwebstühlen und drei Pedalwebstühlen aus dem 18. und 19. Jahrhundert in der ehemaligen Kirche in den Jahren 1996–1997. Dank seiner attraktiven neuen Lage wurde das Atelier 2004 in das Sistema Museale della Regione Umbria aufgenommen und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem der beliebtesten Ausflugsziele der Region. Dieser Übergang von einer privaten Werkstatt zu einem öffentlich zugänglichen Kulturangebot erforderte eine deutliche Änderung der Arbeitsrhythmen, brachte aber auch eine andere Sichtbarkeit mit sich, da neue Möglichkeiten geschaffen wurden. Im Jahr 2017 hat sich die Fondazione Cologni dei Mestieri d ‚Arte mit Marta und dem Designer Federico Pepe an der Realisierung eines neuen Dekors, dem Mandorlato, anlässlich der Veranstaltung »Doppia Firma« während der Designwoche in Mailand beteiligt. Ein dekoratives Motiv, das sie später in ihrem eigenen Stil weiterentwickelte und in verschiedenen Farbtönen deklinierte. Im Jahr 2020 wählte das Modehaus Fendi das Atelier aus, um die ikonische Fendi Baguette-Tasche für das Projekt Hand in Hand neu zu interpretieren, das die Exzellenz der italienischen Handwerkskunst, durch 20 für die verschiedenen Regionen repräsentative Handwerke feiert. In letzter Zeit hat Marta eine Installation für die zweite Ausgabe der prestigeträchtigen Ausstellung Homo Faber 2022 in Venedig realisiert.
Die Werkstatt, die von etwa 35 Webern in Zeiten des Wohlstands auf eine dreiköpfige Genossenschaft angewachsen ist, folgt in ihrem Engagement stets dem historischen Motto des Unternehmens: »Laboremus Jucunde« (mit Freude arbeiten). Heute hat sich der Kampf um die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen in eine Herausforderung der Erhaltung und Weitergabe von Wissen verwandelt, indem er einen tugendhaften Kreislauf fördert, in einen Ansatz der ökologischen Nachhaltigkeit. Die Produktion folgt getreu den jahrhundertealten Arbeitsrhythmen und ‑gesten und unterscheidet sich von der Massenware durch ihre Einzigartigkeit und die absolute Hingabe bei der Realisierung jedes Produkts; eine Hingabe, die auch durch die Besonderheiten der veralteten Arbeitsumgebung, die im Winter besonders kalt ist, erforderlich ist. Ermöglicht wird dies auch durch die Unterstützung der TreadRight Foundation, die seit 2015 die Projekte des Ateliers unterstützt, die Kontinuität der Generationen sicherstellt und die Besucherzahlen erhöht.
So kreiert Marta mit ihren Lehrlingen Aurélie und Sophie noch immer Stoffe auf originalen Jacquard-Webstühlen aus dem 19. Jahrhundert (Vincenzi-Patent von 1836), ohne jede andere Art von Automatisierung. Trotz der digitalen Technologie werden diese Motive auf eine entschieden greifbare Weise Teil des zweiten Jahrtausends, indem sie auf Ketten aus perforiertem Karton »aufgezeichnet« und in Form eines Akkordeons gebundenwerden. Die Verzierungen auf den Ketten sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen: Die Greifen, Granatäpfel, Elefanten usw. sind durch ein kleines handgeschriebenes Etikett auf dem ersten Karton gekennzeichnet, gefolgt von vielen weiteren, je nach Größe des Musters, bis zu einer Höchstzahl von 1500 Karten.
Alle Herstellungsschritte werden im Atelier durchgeführt, welches ausschließlich Garne aus Baumwolle, Leinen, Seide, Kaschmir, Gold und Silber kauft, die auf handgefertigten Fäden nach jahrhundertealten Techniken gewebt werden. Allein der Einbau des größeren Rahmens erfordert 20 Tage Arbeit. Nach Abschluss dieser Kettphase können maximal 50 cm pro Tag gewebt werden. Um Stoffe mit einer Breite von etwa 2 m zu weben, müssen 3600 Fäden verarbeitet werden, und das Gewicht für die Bedienung des Webstuhlpedals kann bis zu 90 Kilo pro Webfach betragen. Je mehr Farben und Designs, desto mehr Geduld und Konzentration werden auf die Probe gestellt.
Das Traditionsunternehmen, das im vergangenen Jahr wegen der allgemeinen weltweiten Konjunkturabschwächung infolge der Pandemie nicht einmal seinen 100. Geburtstag feiern konnte, wie es sich gewünscht hätte, gibt nicht auf. Die Verschiebung der Hundertjahrfeier beinhaltet eine neue Gestaltung des Museumsbereichs; die Herausgabe von Büchern über die »perugischen Tischdecken« bei Clara und über die Geschichte des Ateliers bei Marta, aber auch ein Künstlerbuch, das in Zusammenarbeit mit der Dichterin Laura Anfuso entstanden ist, werden einige der Vorschläge sein. Marta und ihr Team warten darauf, dass in der ehemaligen Kirche wieder Normalität einkehrt, um ein ganzes Jahrhundert weiblichen Unternehmertums zu erzählen, ganz im Sinne von Gustav Mahlers Gedanken: Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Bewahrung des Feuers.