Hinter dem Mythos einer Frau, jenseits der Legende von Teresita Gómez Acosta
In Kuba wurde der Name von Belkis Ayón (Havanna, 1967 – 1999), eine außergewöhnliche Kupferstecherin und Lehrerin, mit Ahnenmythen auf Grundlage von Religionen afrikanischen Ursprungs assoziiert, die im Wesentlichen durch die Geheimgesellschaften Abakuá oder Ñáñigos verkörpert wurden und in besonderer Weise durch diejenigen, die die Legende von Sikán erzählen, aufgrund der Prävalenz dieses Themas über ihr gesamtes Werk hinweg und praktisch seit Beginn ihrer Karriere.
Vielleicht unbeabsichtigt nährte Belkis selbst diese Geschichten, die sich bis heute um ihre Arbeit und die Tatsache ihres Todes ranken, als sie sich eines schicksalhaften Tages das Leben nahm. Das erneute Betrachten der Schöpfung dieser Künstlerin setzt nicht nur einen Akt der Untersuchung und Reflexion voraus, da die verschiedenen Kanten, die das untersuchte Werk ausmachen, erforscht werden; aber auch (und vor allem), sich dem Mythos zu stellen und die Vision einer Frau zu skizzieren, die zweifellos paradigmatisch war.
Diese neue Herangehensweise an ihr Leben und ihre Arbeit bedeutet für mich in besonderer Weise auch die Auseinandersetzung mit flüchtigen Erinnerungen und tiefer Zuneigung. Ich traf Belkis in den ersten Monaten des Jahres 1999 im Hauptquartier der Union der Schriftsteller und Künstler Kubas, als sie gerade die Ideen für ein Fernsehprojekt über plastische und bildende Kunst ausarbeitete. Irgendjemand hatte mir empfohlen, sie wegen ihrer Fachkenntnisse und ihrer Begeisterung für die Kunstförderung anzusprechen, die stets treffend von ihr kommentiert und von ihrem offenen Lächeln begleitet wurden. Mir blieb jedoch keine Zeit, die Freundschaft zu vertiefen, da ihr Tod so abrupt und plötzlich als auch unerklärlich eintrat; die wenigen Begegnungen zwischen uns reichten jedoch aus, um uns zu gegenseitig einzuordnen und in meiner Erinnerung ein Bild jenseits der Künstlerin zu hinterlassen, nämlich das eines liebenswerten Menschen, der für uns fast unentbehrlich geworden war.
Belkis Ayón Manso durchlief eine fundierte künstlerische Ausbildung, beginnend mit der frühen Aufnahme ihres Kunststudiums an der Grundakademie für Bildende Kunst »20 de Octubre« im Jahr 1979*(4), das sie dort bis 1982 fortsetzte. Danach ging sie an die Academia de Bellas Artes San Alejandro, wo sie 1986 ihren Abschluss machte. Schließlich setzte sie ihr Studium bis 1991 am Instituto Superior de Arte fort. Manchen Kritikern und Kennern ihres Werks zufolge lassen sich innerhalb ihres kurzen, aber substanziellen Schaffens mindestens drei bis vier Entwicklungsstufen festlegen. Der erste Zeitraum war zwischen 1984 und 1989, in dem die junge Künstlerin Linolschnitte, Tiefdrucke und Lithografien anfertigte, die ihre Berufung zum formalen Experimentieren zum Vorschein brachten und eine Darstellungsweise des menschlichen Wesens skizzierten. Werke wie »Der Mythos der Massai« (Chalkographie), »Fest der Eingeweihten und Obones« (Leinendruck), beide von 1985, oder »Nasakó hat begonnen« (Lithografie) von 1986 zeigen jene formalen Leistungen, die sie noch während ihres Studiums an der Akademie erzielte, verweisen aber auch auf ihre ersten Schritte in der Erforschung afrokubanischer Kulte, wie Palo Monte, Santeria und Ñañiguismo, die sich in der anschließenden Erforschung der Arbeiten bedeutender Ethnologen wie Lidia Cabrera und Enrique Sosa Rodríguez weiter fortsetzten.
1988 schuf sie eines ihrer bedeutendsten Werke, »Das Abendmahl«, welches sie in Farbe drucken ließ. Die fast lebensgroß dargestellten Figuren verleihen der Szene, in der die junge Künstlerin den katholischen Ritus mit Silhouetten von Menschen afrikanischer Herkunft und Sikán im Zentrum darstellte, eine einzigartige Monumentalität. Diese Gestaltung und Weltanschauung sollten sie vom Anbeginn ihrer Karriere bis zum Ende ihres Daseins kennzeichnen. Ein weiteres wichtiges Werk mit ähnlichen Merkmalen stammt aus dieser Phase als sie Studierende an der ISA war: Der Herr des Geheimnisses. 1991 griff Belkis die Vorlage des Werks »Das Abendessen« auf und druckte es in Schwarzweiß, was den Beginn einer formalen Nachforschung markierte, die auch die Einbeziehung anderer Bestandteile der christlichen Tradition berücksichtigte und mit der Legende von Abakuá verschmelzen ließ, um im Endeffekt einen ästhetischen Ansatz zu erreichen, der über die traditionelle Ikonographie hinausgeht.
Ihr Werk erreichte damals (zwischen 1991 und 1997) Monumentalität sowohl in Bezug auf die Größe der Werke als auch auf die Entwicklung, Strenge und exquisite Beherrschung der Techniken. Das intensive Schwarz und die fast vollkommenen Weiß- und Grautöne drangen in den Raum ihrer Darstellungen ein, um das menschliche Drama inmitten von Verletzungen und Nöten einzufangen, um Unterdrückung und Zensur zu thematisieren und zu hinterfragen, indem sie auf die Auferstehung des Menschen, seines Geistes zugunsten der Freiheit hinweist. Ein Beispiel hierfür ist das Exponat »Perfidie«, eine Collage von 1998, in den Maßen 208 x 252 cm. In diesen Jahren konzentrierte sie sich auch auf die Figur des Sikan und eignete sich seinen Mythos an, um diesen in einer Reihe wundersamer »Porträts« (siehe das Werk »Rette uns, Abaú«, Collage aus dem Jahr 1989) mithilfe bestimmter Attribute, die die weibliche Persönlichkeit in einen neuen Kontext setzen, wiederzugeben. Sie selbst definierte diese Reihe von Werken als die »Via crucis« von Werken, die größtenteils keinen Titel trugen, aber in kuratorischer Weise für ihre Ausstellung als »Sikan und Chivo«, »Reumütig?« oder »Sikan und die Schlange« zusammengetragen wurden.
Bereits in der letzten Phase ihrer Entstehung begann Ayón, kleinere Formate mit kreisförmigen Elementen einzusetzen. Ihre Ikonografie wird erneut in der Figur des Sikán zusammengefasst, durch die sie sich scheinbar selbst verkörpert und versucht, ihre akutesten existenziellen Sorgen zu »richten«, indem sie den Werken eine intensive dramatische Aufladung verleiht, die selbst in ihren Titeln äußerlich sichtbar wird, wie dies beispielsweise bei den Werken »Lass mich raus« und »My Vernicle oder Deine Liebe verurteilt mich«.
Im Laufe ihrer Karriere wagte sie sich meisterhaft an Medien wie Linoleum und Techniken wie Lithografie, Tiefdruck und Kollografie, wobei sie sich mit letzterer am meisten identifizierte. Sie verwendete Karton als Grundlage und fertigte zunächst eine Art Skizze der endgültigen Arbeit an. Nachdem sie die Gestaltung des Ausstellungsraums geplant hatte, wählte sie sorgfältig die Bestandteile und Materialien aus, die sie anschließend hinzufügte und vorbereitete, um sie wie bei einer Collage und in handwerklicher Weise anzuordnen und die Vielfalt der Texturen auf Grundlage der jeweiligen Vorlagen zu erreichen. Kurzum zeichnete sie eine typische Form, die sie so oft wie nötig reproduzierte, einzeln ausschnitt und nach und nach aufklebte, bis sie den gesamten Bereich bedeckte, der für sie von Interesse war. Sie genoss es, auch im familiären Umfeld – mit ihrer Mutter und ihrer Schwester – schaffend kreativ zu sein und mit unterschiedlichen Lösungen zu experimentieren.
Urplötzlich machte sich Belkis Ayón auf landesweiter und internationaler Ebene einen Namen und gewann schon früh verschiedene Auszeichnungen, wie den »La Joven Estampa«-Preis, verliehen von der Galería Haydée Santamaría, der Casa de las Américas, und den Premio en la Bienal Internacional de Grafica de Maastricht, aus den NIEDERLANDEN (beide 1993), sowie den Premio en la Bienal de San Juan del Grabado Latinoamericano y del Caribe in PUERTO RICO im Jahr 1997. 1999 war sie Artist in Residence, Coach und Dozentin an mehreren Universitäten und Kunstzentren in den Vereinigten Staaten.
Sie war Mitglied des Taller Experimental de Gráfica von Havanna und der Unión Nacional de Escritores y Artistas de Cuba (UNEAC), wo sie Vizepräsidentin der Asociación de Artistas Plásticos wurde. Zwischen 1996 und 1999 war sie Co-Kuratorin (zusammen mit Sandra Ramos und Abel Barroso) der Veranstaltung La Huella Múltiple, die die Aufmerksamkeit der Fachkritik auf sich zog und junge aufstrebende Künstler zusammenbrachte, um die kubanische Gravur erneut aufzuwerten. Von 1993 bis zu ihrem Tod arbeitete sie als Professorin für Gravur in »San Alejandro« am Instituto Superior de Arte und gab Workshops an verschiedenen europäischen und nordamerikanischen Universitäten. Sie nahm an zahlreichen Gemeinschaftsprojekten teil und veranstaltete mehr als zwanzig Einzelausstellungen in Kuba und in anderen Ländern wie Kanada, Italien, Deutschland, den Vereinigten Staaten, Japan, der Schweiz und Haiti, wo ihre Arbeiten als Teil öffentlicher oder privater Sammlungen zu finden sind.
Trotz aller Spekulationen im künstlerischen Umfeld der Zeit sind die Gründe für ihren Suizid nicht bekannt, doch wissen wir, dass Belkis zum Zeitpunkt ihres Todes am 11. September 1999 mehr als 245 Werke in verschiedenen Formaten und Techniken sowie Skizzen und Illustrationen hinterlassen hat. Sie hat nur ein Gemälde angefertigt: ein Porträt von Che (das ich persönlich für die Fernsehsendung Signos – neben anderen Werken, die dem legendären Revolutionär gewidmet sind – um 2005 im Militärpark Morro Cabaña gefilmt habe), das in großen Abmessungen in Weiß, Schwarz und den üblichen Grautönen mit für eine Gravur sehr typischen formalen Lösungen daherkommt.
Mit nur 32 Jahren erreichte sie eine beispiellose technische Glanzleistung wegen der Einzigartigkeit des in ihrem Werk behandelten Themas, dieser einzigartigen Darstellung, mit der sie unsere (ihre) kulturellen Wurzeln verteidigte, vor allem aber wegen der Überwindung von Regionalismen und der Einreihung in internationale postmoderne Kunst auf höchstem Niveau. Ihr Berufsleben war zwar kurz, aber außerordentlich intensiv, und es gibt viele, die bestätigen, dass ihr besonderer Stil nicht nur die kubanische Gravur, sondern auch die zeitgenössische kubanische Kunst nachhaltig geprägt hat. Sie gehörte einer Generation von Künstlern an, die in Postmodernismus und Konzeptualismus ausgebildet waren: Los Carpinteros, Carlos Garaicoa, Tania Brugueras und andere, mit denen sie die tiefe Wertekrise teilte, die durch den Bankrott des europäischen Sozialismus für die Kubaner in den 1980er Jahren ausgelöst wurde. Einige Leute bestehen unablässig darauf, dass Belkis Sikans Alter Ego wurde und umgekehrt; und wenn sie diese Gesichter von Frauen darstellen (ohne Münder, aber mit all der Ausdruckskraft, die sich in ihren Augen widerspiegelt), beziehen sie sich auf Opfergefühle, Verrat, Ungehorsam; sie aktivierte alle Ressourcen ihres plastischen Diskurses, um ihre Anliegen jenseits von Religion, Gender-Kriterien und ihren Lebensumständen und Lebenserfahrungen zu vermitteln.
Rastlos, rebellisch, grenzüberschreitend drang sie, soweit es ihr möglich war, mit Respekt und Sensibilität in die Riten der Abakuá-Geheimgesellschaft ein und eignete sich Ende des 20. Jahrhunderts diese Ikonographie an, um von ihrer Position als schwarze, kubanische und weibliche Künstlerin aus einen universellen Diskurs gegen Ausgrenzung, Frustration, Angst, Zensur, Ohnmacht und für die Suche nach Freiheit und Wahrheit mit fast der gleichen Leidenschaft und Hingabe aufzubauen, mit der sich die Ñáñigos der Befreiung ihrer Brüder widmeten.