Die Kunst der Kulinarik führt uns für diese Ausgabe an den malerischen Tegernsee zu Christian Jürgens in sein mit 3 Sternen Michelin und 5 Feinschmecker-Fs ausgezeichnetes Restaurant Überfahrt in Rottach-Egern: Definitiv mehr als ein »Überfahrer« dieser Jürgens, ein absoluter Überflieger. Wie üblich haben wir uns auf das Gespräch mit entsprechender Hintergrund-Recherche und gut geglaubten Fragen vorbereitet. Was dann aus dem geplanten Interview über »culinary art« entstand, übertraf unsere Erwartungen: Ein spannender Diskurs über das neue humanistische Weltbild, in dessen Kern die Gedanken um Empathie, Emotion und Reflexion kreisen.
»Es gibt Werte, für die stehe ich ein: Loyalität, Ehrlichkeit und Authentizität. Sie sind in meiner Persönlichkeit verinnerlicht und zwar mittlerweile so tief, dass sie auch noch da sind, wenn jemand am Lack kratzt«, sagt Jürgens eingangs. Das war nicht immer so, erfahren wir. Vor etwas mehr als zehn Jahren hat sich Christian Jürgens vor den Spiegel gestellt und reflektiert: »Ist das gut, was bisher so gelaufen ist? Kann ich daran etwas ändern? Ehrlich gesagt: Es war erschreckend, was mir da bewusst wurde.« Er selbst hätte sich niemals so beschrieben, aber das Bild, das er aussendete und wie er dadurch von außen wahrgenommen wurde, sah Jürgens plötzlich glasklar vor sich. »Es ist nichts, worauf ich stolz bin. Ich habe meine Werte und die hatte ich immer schon, aber ich musste noch lernen, die Werte zu leben und die gleichen Maßstäbe auch bei mir selbst anzusetzen, um ein verlässlicher Partner zu sein.« Bis in die Gegenwart arbeitet er an seinem Selbst und in vielen Dingen will er sich auch heute noch stetig verbessern. »Ich bin noch nicht fertig, sondern fange gerade erst an«, sagt der 1968 in Unna geborene Chef de Cuisine.
Solange sich Jürgens zurückerinnern kann, war er neugierig. Die Neugierde führte ihn schließlich zur Entscheidung, die Ausbildung zum Koch zu absolvieren. Aufgewachsen in einem behüteten und wohlhabenden Elternhaus, mit drei eigenen Metzgereien, stand er als 16-Jähriger nach einem Schicksalsschlag plötzlich alleine auf der Straße und ist zu seiner Schwester nach Frankfurt gezogen. Als im Delikatessengeschäft und Restaurant der Schwester ein Spüler ausfiel, half Jürgens aus. »Zugleich habe ich kleine Aufgaben für die Küche übernehmen dürfen. Der Küchenchef meinte, ich stelle mich geschickt an und ob ich nicht Lust hätte, den Beruf des Kochs zu erlernen.« Damals war ihm noch nicht klar, was das bedeutet. »Ich habe zum ersten Mal Kartoffelgratin, rosagebratene Ente, Cassis und Mousse au Chocolat gegessen. Ich kannte das alles vorher nicht und war begeistert davon, wie es schmeckte und wie es angerichtet wurde. Ich kannte keinen Bocuse und keinen Witzigmann.« Doch die Neugierde ließ Jürgens schließlich in diese unbekannte Welt des Geschmacks eintauchen und er entwickelte eine intensive Leidenschaft dafür. »Nach der Kochlehre setzte ich mir das Ziel, einmal bei Witzigmann in der Küche zu stehen, was mir einige Jahre später auch gelungen ist. Ich wollte mir bei den besten Chefs tiefes Wissen aneignen.« Jürgens bezeichnet sich nicht als Forscher in seiner Küche, lieber wendet er das Wissen an. »Ich bin hungrig aufs Leben. Darauf, mich weiterzuentwickeln.«
Mehrere Male wollte sich der zielstrebige Jürgens bei Heinz Winkler vorstellen, der aber nie anwesend war. »Beim fünften Mal habe ich am Samstagmorgen im Tantris angerufen und Frau Hartmann war in der Leitung. Eine Autoritätsperson mit einer respekteinflößenden Stimme. Ich habe sie gefragt, wann Heinz Winkler wieder da ist, damit ich mich vorstellen kann und sie meinte, in 45 Minuten hat er kurz Zeit.« Also stand Jürgens 40 Minuten später »geputzt und gestriegelt« vor dem Tantris und hat 15 Minuten lang mit Winkler gesprochen. Inhaltlich ging es weder um Gehaltsvorstellungen noch um Entwicklungschancen. »Ich war nur froh, dass ich dort arbeiten durfte. Man muss sich stets vor Augen halten, dass ein Beruf auf unserem Niveau auf jedem Posten dasselbe Engagement abverlangt, wie es ein Fußballer in der Champions-League benötigt. Das ist vielen nicht bewusst.«


Was in einem 3‑Sterne-Restaurant an Leistung erbracht wird, geht nur über Einsatz, Leistungswillen und Leidenschaft. Heute versammelt Christian Jürgens Menschen um sich herum, die genau das erfüllen und für ihren Beruf in Küche und Service brennen. »Es macht Freude, wenn ich morgens ins Restaurant komme. Ich kann darüber sprechen, was verbessert werden muss, weil alle Willens sind, an sich zu arbeiten. Ich darf sie unterstützen, mit klarem Feedback, das nicht verletzend ist, um ihre persönlichen Ziele gemeinsam zu erreichen. Menschlich und fachlich sind das Weltklasse Leute, die sich in den Dienst der Mannschaft stellen.« Und auch das war nicht immer so. Manchmal hätte er in der Vergangenheit in Sachen Mitarbeiter:innen näher hinschauen müssen. Hier die richtigen Entscheidungen zu treffen und auf Augenhöhe respektvoll miteinander zu kommunizieren hat ihn sehr gefordert. Jürgens hat sich bei ehemaligen Mitarbeiter:innen, die er vor seiner Phase intensiver Reflexion (2011), beschäftigt hatte, entschuldigt: »Ich habe mich so verhalten, weil ich es nicht anders kannte. Von unheimlich talentierten Köchen durfte ich meinen Beruf erlernen, aber eben nicht nur das Kochen, sondern auch Eigenschaften im Führungsverhalten, die man besser hätte ausklammern sollen. Ich habe zuerst mir jahrelang den ‚Knüppel auf den Kopf geschlagen‘ und ihn dann auf die anderen verteilt. Das war mir damals einfach nicht bewusst. Heute weiß ich es besser.«
Jürgens steht mit beiden Beinen auf dem Boden und ist demütig. Ihm ist bewusst, dass es nicht selbstverständlich ist, so ein Leben führen zu dürfen und seit einem Jahrzehnt, Jahr für Jahr mit drei Sternen ausgezeichnet zu werden. Er betont, dass das eine Mannschaftsleistung ist. Gerade deshalb können nur anspruchsvolle Menschen Teil des Teams im Restaurant Überfahrt werden. »Unser Versprechen an die Gäste ist es, die Qualität extrem hoch zu halten. Der Unterschied zwischen überragend und sehr gut, das sind vielleicht drei bis fünf Prozent. Dieses Mehr an Performance musst du jeden Tag abliefern.«
Seinen allerersten Stern hat der ehrgeizige Chef 1998 erkocht. Es sind lediglich drei Minuten verstrichen und er wusste: »Ich will den zweiten und den dritten Stern.« 2002 wurde sein Restaurant Burg Wernberg mit zwei Sternen ausgezeichnet, 2008 eröffnete er das neue Restaurant Überfahrt und bekam direkt nach zwei Monaten wieder zwei Sterne. »Dann hat es bis 2012 gedauert, bis der dritte Stern kam. Der dritte war Zielerreichung und eine unglaubliche Auszeichnung, aber es war für mich auch der Startschuss, etwas Neues zu machen. Jetzt widme ich mich der Weiterentwicklung und das kann ich deshalb wagen, weil ich das Vertrauen in mich selbst gefunden habe.« Drei Sterne über so viele Jahre immer wieder aufs Neue bestätigt zu bekommen, heißt höchster Anspruch an jedem Tisch und auf jedem Teller. Wenn etwas schiefläuft, ist Jürgens gefordert, das selbst zu erkennen, gut hinzuhören, aufmerksam zu sein. Er kann den Druck, der sich aufbaut, nicht weitergeben. Analyse und konsequente Entscheidungen sind gefragt. »Ich nehme jede Anregung der Gäste mit. Ich gehe jeder Anregung hinterher. In jeder noch so kleinen Reklamation steckt eine Chance zur Verbesserung. Ich will nicht Koch der Köche sein, sondern Koch der Gäste.«
Jürgens Antrieb kommt nicht aus der Leistungsperspektive, sondern viel mehr aus der Emotion und er kann nicht anders, als diese zu transportieren: »Ich weine, wenn ich tief berührt bin und ich juble, wenn uns etwas gut gelingt.« Aus dieser natürlichen Empathie kommt auch seine Kraft diese Leistung zu erbringen, davon ist er mittlerweile überzeugt. »Ich kann nicht James Bond sein. Das war eine schlimme Erkenntnis, weil ich gerne so cool wäre wie 007. Heute bin ich lieber authentisch und nicht die coole Kopie eines Helden.« Er hat durch die Reflexion erkannt, dass er im Grunde der Typ Mensch sein will, der er ist. »Erst so wurde ich zu mir selbst. Mit all meinen Fehlern.« Als im Zeichen des Skorpion Geborener fällt es ihm schwer, Fehler zu akzeptieren. Darüber so offen sprechen zu können, das finden wir mutiger und heldenhafter als die Taten eines 007.
Und wie findet ein Christian Jürgens zur Schöpfung seiner Gerichte – auch über die Emotion? »Zuerst existiert ein Gedanke. Irgendetwas inspiriert dich.« So erging es ihm beispielsweise bei der Kreation der »Tegernseer Kiesel«. Sie besteht aus einer Kartoffel-Masse, die mit eiskaltem Sauerrahm gefüllt ist. Das Gericht lebt vom Spannungsverhältnis dieser Gegensätze: die Masse ist warm, der Kern in der Mitte eiskalt und läuft dann flüssig raus, die Spannung löst sich, was für eine Emotion! »Dazu bin ich beim Laufen am See inspiriert worden, als ich am Ufer diese schwarze Kiesel für mich entdeckte.« Ein anderes Beispiel für Inspiration liefern uns die »Steine aus Eis«. Sie gehen auf die emotionale Erinnerung an Kinobesuche in Jürgens Jugendtagen zurück: Langnese Eiskonfekt. »Außen rum knackige Schokolade und innen richtig geiles Eis.« Die Prämisse des 3‑Sterne Chefs lautet: Anfang und Ende sind Geschmack und dazwischen muss eine Überraschung möglich gemacht werden. »Ich möchte etwas erschaffen, das anders ist. In diesem großen Konzert der gehobenen Gastronomie muss etwas passieren, das den Menschen in Erinnerung bleibt.« Seine Ideen schreibt Jürgens auf und bespricht sie anschließend mit seinem Team. Er bezieht deren Gedanken dazu gerne mit ein. Die Umsetzung kann schnell gehen oder manchmal auch mehrere Monate dauern. Es geht hierbei nie um eigene Befindlichkeiten, denn das wäre beliebig, sondern vielmehr darum, Gestalter innerhalb eines großen Ganzen zu sein. »Ich finde die Gäste müssen spüren, dass die Küche lebt.« Das war in den letzten zwei Jahren aufgrund der Situation im Außen manchmal schwierig. »Ich möchte einen ‚attraktiven Fußball‘ spielen. Einsatz, Herzblut, alles geben … dieser Spirit soll vom Gast wahrgenommen werden, sich im besten Fall auf ihn übertragen, dann verzeiht er auch Mal einen kleinen Fehler.«
Kürzlich war Jürgens beim Coldplay Konzert in Frankfurt. »Das Konzert war ein unvergessliches Erlebnis, weil man den Spirit spüren konnte. « Es gab den einen Moment, der Jürgens besonders in den Bann gezogen hat. »Beim Song ‚A Sky full of Stars‘ wurde das Publikum aufgefordert, die mobilen Geräte auszuschalten. Dieser Moment sollte nämlich nur in unseren Herzen fortdauern. Die Stimmung im Stadion ohne all diese Geräte war sensationell. Ich werde diese Emotion nie vergessen« Im Kleinen möchte Christian Jürgens solche Emotionen auf jedem Teller transportieren. »Du musst die Menschen berühren. Schließlich legst du deine Seele auf den Teller.« Das ist das große Ganze und zugleich auch die natürliche Achillesferse des Schöpfers. Jürgens glaubt fest daran, dass es draußen im Universum, hinter den Sternen, etwas gibt, das ihn führt. »Ich glaube, wenn ich als vernünftiger Mensch durch das Leben gehe, dann ist da oben jemand oder etwas, das mich begleitet und darauf aufpasst, dass es mir gut geht.« Ausschlaggebend für den inneren Ausgleich sind der Halt und die Liebe, die er in seiner Familie erfahren darf: »Ich habe in meiner Frau die Liebe meines Lebens gefunden; einen einjährigen Sohn, eine dreijährige Tochter und einen 24-jährigen Sohn, der Rettungssanitäter ist. Ich habe gar keine Zeit, nicht hungrig zu sein.« Nach diesen von der Pandemie gebeutelten Jahren nimmt nun geschäftlich das 3‑Sterne-Restaurant wieder richtig Fahrt auf. Bei Christian Jürgens war es nie die »Fast Lane«: »Ich musste immer die längere Route mit Höhen und Tiefen nehmen, manchmal war der Weg auch steinig, aber wisst ihr, was das Beste ist: Ich komme immer im Ziel an und darum geht es, dort anzukommen. Wenn ich jemals an den Olympischen Spielen teilnehme, dann nur in einer Disziplin und da könnt ihr auf mich setzen, im Durchhalten!«
Der empathische Christian Jürgens hat seinen persönlichen »Sky full of Stars« gefunden. Er blickt in seinen Himmel voller Sterne und ist mutig und offen genug zu entdecken, welche Tore sich hinter den Sternen noch öffnen lassen. Das ist eine Eigenschaft, die ihn in dem, was er tut, einzigartig macht. Die Seele, die er auf den Teller legt, ist für die Gäste, die sie erkennen, nicht nur eine Überraschung, sondern eine tief verändernde Erfahrung.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 3.22 REFLECTION erschienen.