Erste Einzelausstellung in der Schweiz
Werktitel wie BÄNG! sind bei Katja Aufleger im Sinne Marcel Duchamps, die „added colors“, also eine verbale Farbe, und somit ein elementarer Teil ihrer Arbeiten. Sie eröffnen einen weiteren Horizont und ermöglichen Assoziationen. Um ihre Gedankenplastiken zu materialisieren, greift Aufleger selbst zur Videokamera oder formt mit ihren eigenen Händen Ton. Für noch präzisere Ergebnisse lässt sie genauso ihre Ideen von Glasbläser*innen oder Programmierer*innen umsetzen. Loops, Gruppierungen und Wiederholungen erzeugen zyklische Systeme ohne Anfang und Ende. Uns bekannte Strukturen oder Methoden weidet die Künstlerin aus, befreit sie von selbstverständlicher Konnotation und füllt sie mit neuen Möglichkeiten. Sie kreiert Denkräume, die sie durch überraschende Umnutzung von Materialien erzeugt.
In der großen Halle des Museum Tinguely hängen an Stahlseilen drei gläserne Rundkolben von der Decke, gefüllt mit durchsichtiger Flüssigkeit. Es ist ein überdimensionales Kugelstoßpendel mit dem Titel NEWTON’S CRADLE (2013/2020). Normalerweise steht es als Modell auf Schreibtischen und man kann fünf kleine Metallkugeln in Bewegung setzen und ihnen beim Pendeln zuschauen – als Demonstration kinetischer Energie. Würde man jedoch im Ausstellungsraum dazu verführt werden, dasselbe mit dem Glaspendel Auflegers zu tun, wäre die Zerstörungskraft groß, denn in den zerbrechlichen Behältnissen befinden sich die drei Bestandteile von Nitroglycerin.
Während diese Destruktion theoretisches Potenzial bleibt, zerspringt im Video LOVE AFFAIR (2017) tatsächlich Glas. Es zeigt in Nahaufnahme Leuchtkörper vor dunklem Hintergrund. Die Stille wird plötzlich von einem lauten Knall durchbrochen. Eine Lampe nach der anderen wird zerschossen. Die Spannungsentladung bleibt im unendlichen Loop gefangen und wird zu einem unregelmäßigen, rhythmischen Atmen zwischen Anziehung und Gefahr. Anfangs reizvoll und vertraut, entwickelt Auflegers Kunst ihre volle Kraft, wenn der zerstörerische Moment der Veränderung einsetzt, tatsächlich oder gedanklich. In den menschenleeren Bildwelten werden die Objekte zum begehrenswerten Anderen, das aber eine dunkle Seite birgt. Aufleger lotet die Spannbreite von zutiefst menschlichen und existenziellen Fragen um intimste Beziehungen bis hin zu Naturgesetzen aus. Die Gegensätze, die sie sichtbar macht, liegen wie im alltäglichen Leben oft nah beieinander.
Mit ihrer Arbeit übt Aufleger Institutionskritik, hinterfragt Rollen und überschreitet Grenzen.
Die in Berlin lebende Künstlerin hat an der Akademie Mode & Design (AMD) Raumkonzept und Design studiert und ihren Master 2013 in Bildhauerei an der Hochschule für Bildende Künste (HFBK) absolviert, unter anderem bei Andreas Slominski. Mit ihrer Arbeit übt Aufleger Institutionskritik, hinterfragt Rollen und überschreitet Grenzen. So stellen Kurator*innen selbst die explosiven Kunstwerke ins Museum, während das Publikum zum wichtigsten Protagonisten der Gedankenspiele Auflegers wird.
Die Ausstellung befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Mengele-Totentanz (1986) von Jean Tinguely. Dieses späte Werk thematisiert Tod und Vernichtung offenkundig, während man bei «GONE» sich seiner Vergänglichkeit erst auf den zweiten Blick bewusst wird. Themen wie ephemere Kunst, das Wissen um den steten Wandel oder das Involvieren von Alltag und Betrachtenden in die bildenden Künste bieten viele Parallelen zum CEuvre des Maschinenkünstlers. Weitere Arbeiten der norddeutschen Künstlerin finden sich in der Ausstellungshalle neben Tinguelys begehbarer Grassen Meta-Maxi-Maxi-Utopia (1987), im Flur und Untergeschoss des Hauses, und verorten so die zeitgenössische Künstlerin in der monografischen Sammlungspräsentation des Schweizer Kinetikers, der die einzige Konstante in der stetigen Veränderung sah. Genau diese Spannung, der Moment vor dem Wandel, interessiert Aufleger am meisten. In Auflegers Welt wird einem erst auf den zweiten Blick die Flüchtigkeit eines Moments und seiner Vielschichtigkeit bewusst.