Freiräume des Denkens
Die Sammlung Würth umfasst mehr als 18.500 Werke vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart – vor allem Malerei und Skulptur. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf moderner und zeitgenössischer Kunst. Bei freiem Eintritt werden die Kunstwerke in den 15 Museen und Dependancen der Würth-Gruppe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall, nach Plänen des dänischen Architekten Henning Larsen harmonisch eingebettet in das historische Panorama der alten Reichsstadt, stehen 2.600 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung. Aktuell wird dort die Sammlungsausstellung »Sport, Spaß und Spiel« gezeigt, die sich den Vergnügungen wie Überforderungen der Freizeit widmet. Ein durchaus gut gewählter Zeitpunkt für ein derartiges Thema, denn in den letzten Jahren hatte man gerade den Aspekt der Freizeitaktivitäten vielfach vermisst. Dabei ist Freizeit von enormer Bedeutung für die Entwicklung unserer Gesellschaft, den Austausch, das Sichausprobieren und Zusichselbstfinden. Freizeitaktivitäten, ob in Form von Sport oder von Spiel, bieten nicht nur Bewegung, sondern auch Inspiration. Ihre Gegenbilder – der Müßiggang, die Langeweile, das Tagträumen, das Sichtreibenlassen oder das »Chillen« – sind als Freiräume des Denkens wichtige Faktoren künstlerischer Kreativität.
Gezeigt werden in der Ausstellung rund 200 Arbeiten von 98 Künstlerinnen und Künstlern. Ausstellungen aus dem Sammlungsbestand sind für das Kurator*innen-Team der Sammlung Würth von Bedeutung, weil dadurch die Vielzahl an Werken aktiv überblickt wird und stets neue Konstellationen gefunden und neue Werke berücksichtigt werden können, die sonst unter Umständen nicht vordergründig präsent wären. So finden sich während des Ausstellungsbesuchs durchaus überraschende Gruppierungen, die neue Perspektiven zulassen.
Die Schau folgt klassischen Freizeit-Topoi wie Park, Freibad, Badesee, Manege oder Arena bis hin zu Marina, Pferderennbahn oder Club. Freizeit für alle, beziehungsweise »bezahlter Urlaub«, sind soziale Errungenschaften, die erst mühevoll durchgesetzt werden mussten. Darauf spielt auch das Werk »Les Loisirs« (Die Freizeit) des französischen Kubisten Fernand Léger von 1944 an. Mitten im Krieg träumt Léger vom Phänomen der Freizeit, vom Müßiggang für alle. Er war im Exil in den USA und hat damals schon die moderne Freizeitgesellschaft erlebt. Daneben hängen ein großes Werk von Walter Wörn, mit dem Titel »Wochenende« und ein Max Beckmann. Die in der Moderne gerundeten vereinfachten Körperformen, im Volumen bewusst übersteigert, fallen sofort ins Auge. In Wörns Arbeit, der als Künstler der Stuttgarter Moderne im Nationalsozialismus freilich nichts zu melden hatte, drückt sich das Gegenteil von »Reih und Glied« aus: alle frei, jeder wie er will, sorglos und glücklich.
Danach fällt der Blick auf ein Gemälde von František Kupka, der das Proletariat im Volksgarten zum Motiv macht. Kompositorisch eine direkte Replik auf Eduard Manets berühmtes Werk »Musik im Tuileriengarten« von 1862, doch während dieser die Pariser Hautevolee beim Sehen und Gesehen werden festhält, spielt Kupka auf die prekäre Situation in den Städten an, wo auf engstem Raum viele Menschen zugleich ihre Freizeit verleben. Vom elitären Sommerdomizil zum Massentourismus war es ein weiter Weg. Die Werke von Erwin Pfrang, »Lunapark« und »Reisegesellschaft«, spielen darauf an und zeigen zynisch den durchaus unguten Aspekt von Freizeit in Massen, ob im ungepflegten Park am Rande der Großstadt oder auf einem überfüllten Boot in Venedig. Ebenso kritisch reflektiert Martin Liebscher in seiner performativen Fotografie »Camping« den Camping-Urlaub. Darauf zu sehen sind zahlreiche Selbstporträts des Künstlers in exzellent beobachteten unterschiedlichen Posen, Gesten und Settings am Campingplatz. Auch »Der Neue Berg« von Jim Dine nimmt Anfang der 90er Jahre schon vorweg, welche Spuren der Massentourismus am Berg hinterlässt.
Im unteren Geschoß widmet sich die Ausstellung dem Spielen als schöpferischer Erfahrung, vom kindlichen Spiel bis zum Gesellschaftsspiel. Sie zeigt Puppen- und Schattentheater und findet in den öffentlichen Spielen der Antike die Wurzeln der heutigen Spiel- und Wettkampfkultur. Sie beleuchtet, warum so viele Künstler – von Ernst Ludwig Kirchner über Marcel Duchamp und Max Ernst bis hin zu Alfred Hrdlicka oder François Morellet – dem stets mit einer Prise Genialität umwehten, Schachspiel ähnlich leidenschaftlich zugetan waren wie dem Boxkampf, dem Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat frönten. Dazu zeigt das Kurator*innen-Team unter anderem ein berühmtes Foto, das beide mit Boxhandschuhen zeigt. Wer Basquiats Werk kennt, weiß, dass er sich, wie viele afro-amerikanische Jugendliche seiner Generation, mit Boxstars wie Muhammad Ali identifizierte. Hier scheint die sportliche Attitüde aber eher dem künstlerischen Schlagabtausch zwischen dem weißen Gründervater der Pop Art und dem viel jüngeren neoexpressiven Shootingstar zu gelten.
Heute begeistern Freizeitaktivitäten, ob in Form von Sport, von Spiel oder von Müßiggang, die Massen und bieten Bewegung, Erbauung und Inspiration. Kein Wunder also, dass sich auch die bildende Kunst dieses Themas durch alle Zeiten hindurch, besonders aber in der Moderne und der Gegenwart, bemächtigt hat. Im Sinne des Freiraums finden in der Ausstellung auch abstrakte Arbeiten ihren Platz. Richard Deacons sich frei entfaltende Form aus Bugholz beispielsweise: »Rutschig bei Nässe«. Es sind enorme Kräfte, die hier walten, um eine solch fließende Dynamik zu erzeugen. Die Skulptur ist ein starkes Bild für den freien Fluss der Gedanken. Formal passt sie großartig zum Werk »Skaterpark« von Rainer Fetting und zur Arbeit »Show Me a Garden that‘s Burstin’ into Light« von Donna Stolz: Eine Waliserin, die in Karlsruhe studierte und jetzt in Berlin lebt und arbeitet. Mit der androgynen Rückenfigur, die ins Offene hineinschwebt, identifiziert man sich sofort, ähnlich wie in den Figuren von Caspar David Friedrich. Man nimmt eine Person wahr, die sich gut fühlt, zeitgenössisch und dennoch in einer sehr klassischen Pose. Die Frisbee-Scheibe in der Hand könnte ebenso gut ein Diskus sein. Sie ist mit sich, ihrem Körper und ihrer Umgebung im Einklang, frei!