Der Geschichten Erzähler
MENSCHENMALER
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Mit diesen existenziellen Fragen unseres Lebens beschäftigt sich Christian seit über sechs Jahrzehnten in seinem Werk. Längst zählt der 82-jährige Tiroler zu einer fixen Größe am Kunstmarkt, wobei er dem ambivalent gegenübersteht: »Ich mag den wattierten Neureichen, den Kunstsnob, den trivialen Kapitalismus von Kunstmärkten nicht. Anderseits ist das genau jener, dem ich meine Arbeit anbiete und dem ich meine Existenz verdanke.« Christian blieb sich zeitlebens treu, folgte keinen Stilen oder Trends. Als sensibler Seismograf widmet er sich dem menschlichen Dasein mit all seinen Facetten. Seine Themen kreisen um Leben und Tod, Drama und Leid, Alter und Einsamkeit. Christians Motive wirken oft düster und beklemmend. Es sind die Schattenseiten des Lebens, die ihn als Künstler interessieren. Inspiration findet Christian im Tagesgeschehen oder in der Literatur. Zusammenarbeiten mit Autoren wie Erich Fried, Jürg Amann, Günter Eich oder HC Artmann waren ihm immer wichtig. Die Kunsthistorikerin Magdalena Hörmann nannte Christian einmal den »Menschenmaler«. Für Christian bestehe die Aufgabe des Künstlers darin, für die eigenen Gedanken und Geschichten Symbole zu erfinden. Wenn diese beim Betrachter ankommen, hat Christian »Glück gehabt«. Mit Glück hat sein Können wenig zu tun. Christian ist ein erfahrener und vielschichtiger Künstler, seine Bildsprache innovativ und originell. Sein Blick ist nicht sentimental, nicht träumerisch. Subtil und schonungslos nähert er sich der dunklen Seite unserer Seele. Ob in der Malerei, der Grafik, der Skulptur und der Fotografie – Christian ist ein Archäologe, der das Schweigen und Vergessen künstlerisch an die Oberfläche bringt. Jedes Werk hat seine eigene Geschichte und sein eigenes Geheimnis. Mit seinem beispiellosen Schaffen prägte Christian die Tiroler Moderne entscheidend mit. Er hatte internationale Ausstellungen in vielen europäischen Ländern, in Kanada und den USA. Heute zählt er zu den wichtigsten Künstlern seiner Generation.
ORTE DER ERINNERUNG
Neben der Malerei zählt die Grafik zu Christians elementarer Ausdrucksform. Sie erlaubt ihm ein großes Spektrum an Freiheit und Individualität. Der spontane und impulsive Gestus dominiert dabei. Die Zeichnungen und Skizzen sind für Christian Kunstwerk und Ursprung gleichermaßen. Damit reiht er sich in die Tradition der modernen österreichischen Zeichenkunst von Schiele bis Kubin. Christian nennt seine Skizzen die »Originale schlechthin«. Immer wieder korrigiert und überarbeitet er seine Bilder, fügt Texte hinzu. Für Christian, den selbst ernannten »Geschichtenerzähler«, ist die Verbindung von Kunst und Literatur ein wichtiges Merkmal. Es sind die eigenen Gedanken oder Zitate von Schriftstellern, die Christian in seine Blätter einfließen lässt, wie etwa die 28 Bilder für Erich Fried (1991–92) oder für die Quellen (1990), einer Mappe mit zwölf Radierungen, für die H.C. Artmann und Kristian Sotriffer essenzielle Texte schrieben. Aus der Kombination von Bild und Schrift ergeben sich neue Assoziationen und Konnotationen. Da kann es schon mal passieren, dass sich Textfragmente in Landschaftsgebilde verwandeln, in Wolken, in die Schrift des Windes am Wasser. Christian arbeitet oft in Serien. 2012 erbte er von seiner verstorbenen Schwester Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Heraus kamen feinfühlige Collagen, die vom Leid, vom Elend und von Schicksalen aus dem Krieg erzählen. Oft haben seine Bilder und Objekte einen aktuellen Bezug wie etwa der Zyklus zum Jugoslawienkrieg um die Jahrtausendwende. Die Toten im Hinterhof oder die verkohlten Puppen stehen als Sinnbilder für die Gräueltaten während des Balkankriegs. Christians Werke sind Orte der Erinnerungen, seine Ausdrucksweise verstörend und unzensiert – für Christian die gefühlte Wahrheit.
GOTT UND TEUFEL
Die Kunst wurde Christian in die Wiege gelegt. Er wird 1940 als Anton Christian Kirchmayr in Innsbruck geboren. Sein Vater ist kein Unbekannter – Toni Kirchmayr machte sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einen Namen als Maler und Restaurator. Nebenbei betrieb er eine renommierte Mal- und Zeichenschule, zu deren Schülern u. a. Max Weiler zählte. Christian sieht seinen Vater oft wochenlang nicht. »Mein Vater kam nur an manchen Wochenenden und von Weihnachten bis zum Hl. Dreikönigstag zu uns.« 1942 übersiedelte die Familie kriegsbedingt in das Dorf Oberau in der Wildschönau. Der Umzug erwies sich als richtige Entscheidung, denn nur ein Jahr später wurde die Wohnung in Innsbruck durch Bombenangriffe zerstört. An seine drakonische Schulzeit kann sich Christian noch gut erinnern. »Stockschläge auf die Hand, Knien vor der Klasse und anderen Sanktionen gehörten zum täglichen Erziehungsritual, Gott und Teufel spielten eine wichtige Rolle und waren als Drohmittel allgegenwärtig.« Später besuchte er die Zeichenschule seines Vaters in der Innsbrucker Altstadt. »Künstler sind bei uns daheim immer aus und ein gegangen und Kunst ist überall herumgestanden. « In seiner Freizeit las er gerne Biografien und Künstlerbriefe von Leonardo da Vinci, Vincent van Gogh und Paula Modersohn-Becker. »Ich glaube, ich fand, selbst von zu Hause gut versorgt, die seelischen und materiellen Nöte dieser Künstler romantisch. Ich empfand Sehnsucht, ebenso zu existieren.
ABSOLUT NICHTS GELERNT
Mit 19 reiste Christian per Anhalter nach Frankreich und Spanien, wo er sich als Landschaftsmaler versuchte. »Ich fertigte eine Menge miserabler Aquarelle und kam mir vor wie van Gogh.« Mit der künstlerischen Ausbeute bewarb er sich im Herbst 1959 an der Akademie der bildenden Künste Wien, wobei der Start fast missglückte. »Mein Zug kam um 8 Uhr in Wien an, die Aufnahmeprüfung war um 9 Uhr. Ich war vorher noch nie in Wien gewesen und hatte Mühe zur angegebenen Zeit den Schillerplatz zu finden.« Die Professoren Josef Dobrowsky und Herbert Boeckl überzeugte er jedenfalls von seinem Talent. 1963 machte Christian seinen Abschluss an der Akademie. Rückblickend war die Studienzeit für ihn ernüchternd: »Das einzig Wesentliche an einer Akademie ist das Zusammensein mit Leuten, die ungefähr das gleiche Ziel haben, der Erfahrungsaustausch durch das Nebeneinanderarbeiten. Ich kann aufrichtig behaupten, von Josef Dobrowsky absolut nichts gelernt, nichts mitbekommen zu haben, nichts hatte lernen können, wohl aber durch die Anwesenheit in der Klasse. Als Student wechselte er oft die Unterkunft. Eine Vermieterin hat er noch gut in Erinnerung – Johanna Staude, Gustav Klimts ehemalige Muse. Sie war »krank vor Geiz«, sie »kaufte ausschließlich Abfallobst, Gemüse und stinkendes Abfallfleisch«, so Christian. Irgendwann reichte es ihm und er zog »ihrem Klo-Papier-Bad öffentliche Anstalten und ihrer Wohnung bald eine andere vor.«
LEBEN MIT DEM TOD
Nach dem Studium kehrte Christian in seine Heimatstadt Innsbruck zurück. Er änderte seinen zweiten Vornamen zum Familiennamen, um sich vom Vater abzugrenzen. Innerlich kämpfte er mit einer kreativen Blockade. »Diesen ersten Winter wieder in Innsbruck, verbrachte ich fast ausschließlich im Kaffeehaus, mich selbst ungeheuer wichtig nehmend. In meinem neuen schönen Atelier habe ich bestimmt keine fünf Bilder gemacht.« Die Wende kam 1964, als er nach Paris ging. »In kurzer Zeit malte ich an die 40 Bilder und nebenbei entstanden zirka 100 Zeichnungen.« In der französischen Kunstmetropole lernte Christian Künstler und Intellektuelle wie Paul Celan kennen, dem er später verschiedene Arbeiten widmete. Paris war schon damals teuer. Um sich über Wasser zu halten, arbeitete er für die Malerin Sonia Delaunay – diese Tätigkeit fand ein jähes Ende, als diese bemerkte, dass seine Bilder mit ihren Farben entstanden. Christian erledigte Gelegenheitsjobs oder klaute Lebensmittel im Quartier des Halles. Zwei Jahre hielt es ihn in Paris, ehe er 1966 nach Tirol zurückkehrte. 1969 bekam er die Gelegenheit, mithilfe eines Stipendiums nach London zu gehen. Christian versuchte sich künstlerisch neu zu orientieren. Er begann mit verwesenden organischen Materialien zu experimentieren. »Ich ließ Fleisch verfaulen und notierte die Destruktionszeiten und ‑phasen, gab Tierkadaver in verschiedene Flüssigkeiten und zeichnete und fotografierte die unterschiedlichsten Einwirkungen, ich züchtete Pilze als gedachtenStraßenbelag, erfand die Fleischpapierbilder und begann schließlich meine ersten Objekte aus organischem Material zu bauen.« Lange vor Damien Hirst mit seinen spektakulären Tierpräparaten, entwarf Christian ein Konzept, das den biologischen Transformationsprozess als eine Form des Lebens annahm oder anders ausgedrückt – den Tod als Teil des Lebens sah.
(ALP)TRÄUME
Nach Stationen in Paris, London, Houston und New York lebt Christian in Natters, einem kleinen Dorf unweit von Innsbruck. Sein Haus ist geschmückt mit unzähligen Masken und Skulpturen, einer Sammlung, die Christian in seiner selbst kuratierten Ausstellung Treibgut 2010/11 im Innsbrucker Museum im Zeughaus im Kontext mit der eigenen Arbeit zeigte. In der Schau setzte er sich mit den Themen Alter, Einsamkeit und Schmerz auseinander. Bei Werken wie Schwestern (2010) oder Schau doch, was ich dir mitgebracht habe (2009) denkt man unweigerlich an Francisco de Goya, Francis Bacon oder Richard Gerstl. Sie alle fanden zu einer radikalen Bildsprache, die sich in der existenziellen und psychischen Bedrohung des Menschen widerspiegelt. Christian hat ein hohes Maß an Selbstdisziplin. »Wenn ich produziere, bin ich abhängig vom regelmäßigen Arbeitsrhythmus, ich gehe in meine Werkstätte beinahe wie in den Job. Meine Zeichnungen und Plastiken mache ich fertig. Ich schmeiße keine Ideen und halbfertigen Blätter weg, ich arbeite so lange daran herum, bis ich damit zufrieden bin. Manchmal kommen vier, fünf Zeichnungen übereinander auf das Papier.« Christian ist es wichtig, dass seine Bilder »suggestiv sind, dass sich die Leute lange daran erinnern müssen, wie an einen besonders schönen oder bösen Traum.« 2020 konnte man sich davon einen Eindruck verschaffen, als anlässlich seines 80. Geburtstags eine große Retrospektive an drei Standorten stattfand. Während im Tiroler Volkskunstmuseum Gemälde und Skulpturen im Dialog mit Objekten aus der Sammlung präsentiert wurden, standen im Rabalderhaus in Schwaz seine Fotografien im Zentrum. In der Villa Schindler fokussierte man sich auf sein grafisches Werk. Christian schickte den Besucher auf ein apokalyptisches Martyrium, das anziehend und irritierend gleichermaßen war. Mit den geschundenen Körpern, den gespenstischen Relikten und den wilden
Visionen ließ Christian tief in die menschlichen Seelenabgründe blicken.
Christian ist immer für eine Überraschung gut. In seinem jüngsten Projekt arbeitet er mit dem österreichischen Schriftsteller Christoph W. Bauer an animierten Filmen zu seinen Bildern. Malerei 2.0. Christians Bildwelten könnte also schon bald in Bewegung geraten.