Anton Christian

Der Geschichten Erzähler

MENSCHENMALER
Woher kom­men wir? Wohin gehen wir? Mit die­sen exis­ten­zi­el­len Fra­gen unse­res Lebens beschäf­tigt sich Chris­ti­an seit über sechs Jahr­zehn­ten in sei­nem Werk. Längst zählt der 82-jäh­ri­ge Tiro­ler zu einer fixen Grö­ße am Kunst­markt, wobei er dem ambi­va­lent gegen­über­steht: »Ich mag den wat­tier­ten Neu­rei­chen, den Kunst­snob, den tri­via­len Kapi­ta­lis­mus von Kunst­märk­ten nicht. Ander­seits ist das genau jener, dem ich mei­ne Arbeit anbie­te und dem ich mei­ne Exis­tenz ver­dan­ke.« Chris­ti­an blieb sich zeit­le­bens treu, folg­te kei­nen Sti­len oder Trends. Als sen­si­bler Seis­mo­graf wid­met er sich dem mensch­li­chen Dasein mit all sei­nen Facet­ten. Sei­ne The­men krei­sen um Leben und Tod, Dra­ma und Leid, Alter und Ein­sam­keit. Chris­ti­ans Moti­ve wir­ken oft düs­ter und beklem­mend. Es sind die Schat­ten­sei­ten des Lebens, die ihn als Künst­ler inter­es­sie­ren. Inspi­ra­ti­on fin­det Chris­ti­an im Tages­ge­sche­hen oder in der Lite­ra­tur. Zusam­men­ar­bei­ten mit Autoren wie Erich Fried, Jürg Amann, Gün­ter Eich oder HC Art­mann waren ihm immer wich­tig. Die Kunst­his­to­ri­ke­rin Mag­da­le­na Hör­mann nann­te Chris­ti­an ein­mal den »Men­schen­ma­ler«. Für Chris­ti­an bestehe die Auf­ga­be des Künst­lers dar­in, für die eige­nen Gedan­ken und Geschich­ten Sym­bo­le zu erfin­den. Wenn die­se beim Betrach­ter ankom­men, hat Chris­ti­an »Glück gehabt«. Mit Glück hat sein Kön­nen wenig zu tun. Chris­ti­an ist ein erfah­re­ner und viel­schich­ti­ger Künst­ler, sei­ne Bild­spra­che inno­va­tiv und ori­gi­nell. Sein Blick ist nicht sen­ti­men­tal, nicht träu­me­risch. Sub­til und scho­nungs­los nähert er sich der dunk­len Sei­te unse­rer See­le. Ob in der Male­rei, der Gra­fik, der Skulp­tur und der Foto­gra­fie – Chris­ti­an ist ein Archäo­lo­ge, der das Schwei­gen und Ver­ges­sen künst­le­risch an die Ober­flä­che bringt. Jedes Werk hat sei­ne eige­ne Geschich­te und sein eige­nes Geheim­nis. Mit sei­nem bei­spiel­lo­sen Schaf­fen präg­te Chris­ti­an die Tiro­ler Moder­ne ent­schei­dend mit. Er hat­te inter­na­tio­na­le Aus­stel­lun­gen in vie­len euro­päi­schen Län­dern, in Kana­da und den USA. Heu­te zählt er zu den wich­tigs­ten Künst­lern sei­ner Generation.

Por­trait Anton Chris­ti­an, Copy­right Mar­tin Vandory

ORTE DER ERINNERUNG
Neben der Male­rei zählt die Gra­fik zu Chris­ti­ans ele­men­ta­rer Aus­drucks­form. Sie erlaubt ihm ein gro­ßes Spek­trum an Frei­heit und Indi­vi­dua­li­tät. Der spon­ta­ne und impul­si­ve Ges­tus domi­niert dabei. Die Zeich­nun­gen und Skiz­zen sind für Chris­ti­an Kunst­werk und Ursprung glei­cher­ma­ßen. Damit reiht er sich in die Tra­di­ti­on der moder­nen öster­rei­chi­schen Zei­chen­kunst von Schie­le bis Kubin. Chris­ti­an nennt sei­ne Skiz­zen die »Ori­gi­na­le schlecht­hin«. Immer wie­der kor­ri­giert und über­ar­bei­tet er sei­ne Bil­der, fügt Tex­te hin­zu. Für Chris­ti­an, den selbst ernann­ten »Geschich­ten­er­zäh­ler«, ist die Ver­bin­dung von Kunst und Lite­ra­tur ein wich­ti­ges Merk­mal. Es sind die eige­nen Gedan­ken oder Zita­te von Schrift­stel­lern, die Chris­ti­an in sei­ne Blät­ter ein­flie­ßen lässt, wie etwa die 28 Bil­der für Erich Fried (1991–92) oder für die Quel­len (1990), einer Map­pe mit zwölf Radie­run­gen, für die H.C. Art­mann und Kris­ti­an Sotriff­er essen­zi­el­le Tex­te schrie­ben. Aus der Kom­bi­na­ti­on von Bild und Schrift erge­ben sich neue Asso­zia­tio­nen und Kon­no­ta­tio­nen. Da kann es schon mal pas­sie­ren, dass sich Text­frag­men­te in Land­schafts­ge­bil­de ver­wan­deln, in Wol­ken, in die Schrift des Win­des am Was­ser. Chris­ti­an arbei­tet oft in Seri­en. 2012 erb­te er von sei­ner ver­stor­be­nen Schwes­ter Feld­post­brie­fe aus dem Zwei­ten Welt­krieg. Her­aus kamen fein­füh­li­ge Col­la­gen, die vom Leid, vom Elend und von Schick­sa­len aus dem Krieg erzäh­len. Oft haben sei­ne Bil­der und Objek­te einen aktu­el­len Bezug wie etwa der Zyklus zum Jugo­sla­wi­en­krieg um die Jahr­tau­send­wen­de. Die Toten im Hin­ter­hof oder die ver­kohl­ten Pup­pen ste­hen als Sinn­bil­der für die Gräu­el­ta­ten wäh­rend des Bal­kan­kriegs. Chris­ti­ans Wer­ke sind Orte der Erin­ne­run­gen, sei­ne Aus­drucks­wei­se ver­stö­rend und unzen­siert – für Chris­ti­an die gefühl­te Wahrheit.

GOTT UND TEUFEL
Die Kunst wur­de Chris­ti­an in die Wie­ge gelegt. Er wird 1940 als Anton Chris­ti­an Kirch­mayr in Inns­bruck gebo­ren. Sein Vater ist kein Unbe­kann­ter – Toni Kirch­mayr mach­te sich in der ers­ten Hälf­te des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts einen Namen als Maler und Restau­ra­tor. Neben­bei betrieb er eine renom­mier­te Mal- und Zei­chen­schu­le, zu deren Schü­lern u. a. Max Wei­ler zähl­te. Chris­ti­an sieht sei­nen Vater oft wochen­lang nicht. »Mein Vater kam nur an man­chen Wochen­en­den und von Weih­nach­ten bis zum Hl. Drei­kö­nigs­tag zu uns.« 1942 über­sie­del­te die Fami­lie kriegs­be­dingt in das Dorf Ober­au in der Wild­schön­au. Der Umzug erwies sich als rich­ti­ge Ent­schei­dung, denn nur ein Jahr spä­ter wur­de die Woh­nung in Inns­bruck durch Bom­ben­an­grif­fe zer­stört. An sei­ne dra­ko­ni­sche Schul­zeit kann sich Chris­ti­an noch gut erin­nern. »Stock­schlä­ge auf die Hand, Knien vor der Klas­se und ande­ren Sank­tio­nen gehör­ten zum täg­li­chen Erzie­hungs­ri­tu­al, Gott und Teu­fel spiel­ten eine wich­ti­ge Rol­le und waren als Droh­mit­tel all­ge­gen­wär­tig.« Spä­ter besuch­te er die Zei­chen­schu­le sei­nes Vaters in der Inns­bru­cker Alt­stadt. »Künst­ler sind bei uns daheim immer aus und ein gegan­gen und Kunst ist über­all her­um­ge­stan­den. « In sei­ner Frei­zeit las er ger­ne Bio­gra­fien und Künst­ler­brie­fe von Leo­nar­do da Vin­ci, Vin­cent van Gogh und Pau­la Moder­sohn-Becker. »Ich glau­be, ich fand, selbst von zu Hau­se gut ver­sorgt, die see­li­schen und mate­ri­el­len Nöte die­ser Künst­ler roman­tisch. Ich emp­fand Sehn­sucht, eben­so zu existieren.

ABSOLUT NICHTS GELERNT
Mit 19 reis­te Chris­ti­an per Anhal­ter nach Frank­reich und Spa­ni­en, wo er sich als Land­schafts­ma­ler ver­such­te. »Ich fer­tig­te eine Men­ge mise­ra­bler Aqua­rel­le und kam mir vor wie van Gogh.« Mit der künst­le­ri­schen Aus­beu­te bewarb er sich im Herbst 1959 an der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te Wien, wobei der Start fast miss­glück­te. »Mein Zug kam um 8 Uhr in Wien an, die Auf­nah­me­prü­fung war um 9 Uhr. Ich war vor­her noch nie in Wien gewe­sen und hat­te Mühe zur ange­ge­be­nen Zeit den Schil­ler­platz zu fin­den.« Die Pro­fes­so­ren Josef Dobrow­sky und Her­bert Boeckl über­zeug­te er jeden­falls von sei­nem Talent. 1963 mach­te Chris­ti­an sei­nen Abschluss an der Aka­de­mie. Rück­bli­ckend war die Stu­di­en­zeit für ihn ernüch­ternd: »Das ein­zig Wesent­li­che an einer Aka­de­mie ist das Zusam­men­sein mit Leu­ten, die unge­fähr das glei­che Ziel haben, der Erfah­rungs­aus­tausch durch das Neben­ein­an­der­ar­bei­ten. Ich kann auf­rich­tig behaup­ten, von Josef Dobrow­sky abso­lut nichts gelernt, nichts mit­be­kom­men zu haben, nichts hat­te ler­nen kön­nen, wohl aber durch die Anwe­sen­heit in der Klas­se. Als Stu­dent wech­sel­te er oft die Unter­kunft. Eine Ver­mie­te­rin hat er noch gut in Erin­ne­rung – Johan­na Stau­de, Gus­tav Klimts ehe­ma­li­ge Muse. Sie war »krank vor Geiz«, sie »kauf­te aus­schließ­lich Abfall­obst, Gemü­se und stin­ken­des Abfall­fleisch«, so Chris­ti­an. Irgend­wann reich­te es ihm und er zog »ihrem Klo-Papier-Bad öffent­li­che Anstal­ten und ihrer Woh­nung bald eine ande­re vor.«

LEBEN MIT DEM TOD
Nach dem Stu­di­um kehr­te Chris­ti­an in sei­ne Hei­mat­stadt Inns­bruck zurück. Er änder­te sei­nen zwei­ten Vor­na­men zum Fami­li­en­na­men, um sich vom Vater abzu­gren­zen. Inner­lich kämpf­te er mit einer krea­ti­ven Blo­cka­de. »Die­sen ers­ten Win­ter wie­der in Inns­bruck, ver­brach­te ich fast aus­schließ­lich im Kaf­fee­haus, mich selbst unge­heu­er wich­tig neh­mend. In mei­nem neu­en schö­nen Ate­lier habe ich bestimmt kei­ne fünf Bil­der gemacht.« Die Wen­de kam 1964, als er nach Paris ging. »In kur­zer Zeit mal­te ich an die 40 Bil­der und neben­bei ent­stan­den zir­ka 100 Zeich­nun­gen.« In der fran­zö­si­schen Kunst­me­tro­po­le lern­te Chris­ti­an Künst­ler und Intel­lek­tu­el­le wie Paul Celan ken­nen, dem er spä­ter ver­schie­de­ne Arbei­ten wid­me­te. Paris war schon damals teu­er. Um sich über Was­ser zu hal­ten, arbei­te­te er für die Male­rin Sonia Delaunay – die­se Tätig­keit fand ein jähes Ende, als die­se bemerk­te, dass sei­ne Bil­der mit ihren Far­ben ent­stan­den. Chris­ti­an erle­dig­te Gele­gen­heits­jobs oder klau­te Lebens­mit­tel im Quar­tier des Hal­les. Zwei Jah­re hielt es ihn in Paris, ehe er 1966 nach Tirol zurück­kehr­te. 1969 bekam er die Gele­gen­heit, mit­hil­fe eines Sti­pen­di­ums nach Lon­don zu gehen. Chris­ti­an ver­such­te sich künst­le­risch neu zu ori­en­tie­ren. Er begann mit ver­we­sen­den orga­ni­schen Mate­ria­li­en zu expe­ri­men­tie­ren. »Ich ließ Fleisch ver­fau­len und notier­te die Destruk­ti­ons­zei­ten und ‑pha­sen, gab Tier­ka­da­ver in ver­schie­de­ne Flüs­sig­kei­ten und zeich­ne­te und foto­gra­fier­te die unter­schied­lichs­ten Ein­wir­kun­gen, ich züch­te­te Pil­ze als gedach­ten­Stra­ßen­be­lag, erfand die Fleisch­pa­pier­bil­der und begann schließ­lich mei­ne ers­ten Objek­te aus orga­ni­schem Mate­ri­al zu bau­en.« Lan­ge vor Dami­en Hirst mit sei­nen spek­ta­ku­lä­ren Tier­prä­pa­ra­ten, ent­warf Chris­ti­an ein Kon­zept, das den bio­lo­gi­schen Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess als eine Form des Lebens annahm oder anders aus­ge­drückt – den Tod als Teil des Lebens sah.

(ALP)TRÄUME
Nach Sta­tio­nen in Paris, Lon­don, Hous­ton und New York lebt Chris­ti­an in Nat­ters, einem klei­nen Dorf unweit von Inns­bruck. Sein Haus ist geschmückt mit unzäh­li­gen Mas­ken und Skulp­tu­ren, einer Samm­lung, die Chris­ti­an in sei­ner selbst kura­tier­ten Aus­stel­lung Treib­gut 2010/11 im Inns­bru­cker Muse­um im Zeug­haus im Kon­text mit der eige­nen Arbeit zeig­te. In der Schau setz­te er sich mit den The­men Alter, Ein­sam­keit und Schmerz aus­ein­an­der. Bei Wer­ken wie Schwes­tern (2010) oder Schau doch, was ich dir mit­ge­bracht habe (2009) denkt man unwei­ger­lich an Fran­cis­co de Goya, Fran­cis Bacon oder Richard Gerstl. Sie alle fan­den zu einer radi­ka­len Bild­spra­che, die sich in der exis­ten­zi­el­len und psy­chi­schen Bedro­hung des Men­schen wider­spie­gelt. Chris­ti­an hat ein hohes Maß an Selbst­dis­zi­plin. »Wenn ich pro­du­zie­re, bin ich abhän­gig vom regel­mä­ßi­gen Arbeits­rhyth­mus, ich gehe in mei­ne Werk­stät­te bei­na­he wie in den Job. Mei­ne Zeich­nun­gen und Plas­ti­ken mache ich fer­tig. Ich schmei­ße kei­ne Ideen und halb­fer­ti­gen Blät­ter weg, ich arbei­te so lan­ge dar­an her­um, bis ich damit zufrie­den bin. Manch­mal kom­men vier, fünf Zeich­nun­gen über­ein­an­der auf das Papier.« Chris­ti­an ist es wich­tig, dass sei­ne Bil­der »sug­ges­tiv sind, dass sich die Leu­te lan­ge dar­an erin­nern müs­sen, wie an einen beson­ders schö­nen oder bösen Traum.« 2020 konn­te man sich davon einen Ein­druck ver­schaf­fen, als anläss­lich sei­nes 80. Geburts­tags eine gro­ße Retro­spek­ti­ve an drei Stand­or­ten statt­fand. Wäh­rend im Tiro­ler Volks­kunst­mu­se­um Gemäl­de und Skulp­tu­ren im Dia­log mit Objek­ten aus der Samm­lung prä­sen­tiert wur­den, stan­den im Rabald­er­haus in Schwaz sei­ne Foto­gra­fien im Zen­trum. In der Vil­la Schind­ler fokus­sier­te man sich auf sein gra­fi­sches Werk. Chris­ti­an schick­te den Besu­cher auf ein apo­ka­lyp­ti­sches Mar­ty­ri­um, das anzie­hend und irri­tie­rend glei­cher­ma­ßen war. Mit den geschun­de­nen Kör­pern, den gespens­ti­schen Relik­ten und den wilden
Visio­nen ließ Chris­ti­an tief in die mensch­li­chen See­len­ab­grün­de blicken.

Chris­ti­an ist immer für eine Über­ra­schung gut. In sei­nem jüngs­ten Pro­jekt arbei­tet er mit dem öster­rei­chi­schen Schrift­stel­ler Chris­toph W. Bau­er an ani­mier­ten Fil­men zu sei­nen Bil­dern. Male­rei 2.0. Chris­ti­ans Bild­wel­ten könn­te also schon bald in Bewe­gung geraten.

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geschrieben von

Studium der Kunstgeschichte in Innsbruck und Wien. 2016 Promotion über Koloman Moser an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2010 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Belvedere. Seit 2018 Kurator für die Sammlung Hainz in Wien. Erarbeitung der Werkverzeichnisse Koloman Moser (Belvedere) und Kurt Absolon (Sammlung Hainz). Autor zahlreicher Publikationen und Essays zur modernen und zeitgenössischen Kunst mit einem Forschungsschwerpunkt auf der Kunst der Wiener Moderne.

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