Sind wir Pioniere unseres Lebens?
Ach, wenn mir doch nur was einfallen würde! Was nie Dagewesenes, Neues, Innovatives, was spektakulär Anderes! Ein Text, der Geschichte schreibt, der alles revolutioniert, auf dem jedwedes Nachkommende aufbaut und der mich weltberühmt macht! Ich – die Pionierin des Neuen Schreibens! Oder wenigstens eine Pionierin der Kunst; das wäre eigentlich fast noch schöner – ist aber bedauerlicherweise genauso utopisch, wie mein Traum vom Weltruhm. Wobei… in der Kunst berühmt zu werden, scheint mir nicht ganz so unerreichbar zu sein, wie das Ziel, auf diesem Gebiet eine Pionierin zu sein. Ruhm erreicht man unter Umständen schon mit einem Skandal. Glück spielt eine Rolle, Fleiß, Befähigung und der kosmische Funke der Inspiration sind Voraussetzung. Da kann man schon mal berühmt werden, und sei es nur für die ebenfalls berühmten fünf Minuten. Pionier ist man aber für immer. Der oder die Erste wird für alle Zeiten der oder die Erste sein. Das ist der wesentliche Unterschied. Das Prädikat „Pionier“ darf natürlich nur ein Mensch für sich beanspruchen, der „Pionierarbeit“ geleistet hat und das ist nicht selten ein gefährlicher Job. Pioniere überschreiten nämlich per Definition schon Grenzen. „Das geht zu weit!“, schreien die Konservativen beim Anblick grenzüberschreitender Kunst und rufen zum Boykott oder wahlweise zur Hexenverbrennung auf – abhängig davon, in welchen Zeitaltern oder Nationen man sich befindet. Aber auch die eigenen Grenzen müssen überschritten werden. Pioniere müssen begrenztes und begrenzendes Denken ablegen, Ängste und Scheu überwinden, das Undenkbare denken. Sie müssen in ihrer Fantasie grenzenlos werden und lernen, sich über geistige Schlagbäume hinwegzusetzen. Damit grenzen sie sich aus. Nicht weit von Ausgrenzung entfernt, lauern Aussätzigkeit und Verbannung und die wiederum ist die Nachbarin der Vernichtung. Viele Pioniere der Geschichte könnten davon ein Lied erzählen, hätten ihre geistig begrenzten Verfolger sie nicht umgebracht. Alternativ werden ihre Bücher verbrannt, Bilder verboten oder sie werden mit allen politischen und sozialen Mitteln diffamiert und mundtot gemacht. Das ist heute nicht anders, als zu jeder anderen Zeit.
Andererseits gelten Pioniere auch als Bahnbrecher. Die Helden, die endlich einen Impfstoff gefunden haben, der Erfinder des Penicillins, der Entdecker Amerikas oder die Astronauten auf dem Mond. In der Kunst werden solche „Ersten“ gefeiert als Wegbereiter der Kunst, als die ganz Großen zum Beispiel der Malerei. Berühmte Beispiele liefert die Klassische Moderne mit Picasso, Kandinsky, Matisse und vielen weiteren Künstlern, die zur Weiterentwicklung und Befreiung der Kunst beigetragen haben. Jede neue Richtung und Stilart wird von einem Ersten, einer Ersten initiiert. So entstanden Digitalart, Street Art, Comics, Konzeptkunst und eine große Anzahl weiterer Stilrichtungen und Ansätze.
Wikipedia beschreibt das Stichwort „Pionier“ auch mit „Wegbereiter“ – und diese Umschreibung trifft es auf den Punkt. Pioniere beschreiten keinen bestehenden Weg, sondern brechen sich ihre Bahn durch das Unterholz geistiger Begrenztheit. Sie schaffen einen Trampelpfad durch die Unwegsamkeit, aus dem eines Tages eine Straße ins Licht werden kann. Sie müssen Widerstände aus dem Weg räumen, eine Richtung einschlagen, die an ein noch nicht erkennbares Ziel führt und sie betreten unbekanntes Terrain. Sie wissen nicht, ob da nicht ein Mob lauert, der alles einen Kopf kürzer macht, als sie selbst oder ob sie ein Berg erwartet, von dem aus ihr Licht die ganZe Welt erhellt. Vermutlich müssen sie mit beidem rechnen, wie sich am Beispiel von Joseph Beuys zeigt.
Dennoch gibt es immer wieder besondere Menschen, die diesen abenteuerlichen Weg beschreiten und zu bahnbrechenden Erfolgen kommen. Die haben die Erreichung ihres Ziels allerdings nicht nur ihrem Genius, ihrer Tollkühnheit oder ihrer Kreativität zu verdanken, sondern auch einer politischen und gesellschaftlichen Freiheit, die echte Pionierarbeit zulässt oder sogar fördert. HA Schult hat dazu eine sehr kurze und schlüssige Aussage gemacht: „Die Freiheit einer Gesellschaft ist so groß wie die, die sie ihrer Kunst gibt.“ Es ist also innere und äußere Freiheit, die Pionieren gebiert.
Dabei erscheint mir die Erlangung innerer Freiheit ebenso schwierig, wie der Kampf um äußere Freiheit beispielsweise in totalitären und diktatorischen Staaten. „Mach dich doch mal frei von diesem kleinbürgerlichen Beschränkungsdenken!“, ist leicht gesagt und klingt sexy. Wenn es aber so einfach wäre, sich aus psychologischen, sozialen und politischen Strukturen zu lösen, würde ich heute nicht in einem Reihenhaus wohnen und meine Haut – pardon, Kunst – zu Markte, das heißt in Galerien tragen. Schlimmer noch, ich bin sogar selbst Galeristin! Immerhin – Hoffnung besteht noch, denn Pionierin kann man auf jedem Gebiet werden. Ich könnte also die Pionierin der Galeristen werden und auch als freie Künstlerin ist der Zug für mich noch nicht ganz abgefahren. Dazu müsste – siehe oben – mir nur was Neues einfallen, denn eines gilt für viele kreative Berufe und für die Kunst ganz besonders: „Gibt’s schon“ geht nicht.
Pionier kann naturgemäß nur werden, wer innovativ ist. Der berüchtigte Innovationszwang in der Kunst zwingt Künstler, Einzigartiges zu schaffen – ODER wenigstens besser zu sein, als ihre Vorgänger. Ambitionierten Kunstschaffenden ist also zuzurufen: „Mach was Neues, oder mach es besser!“
Wer nicht so ehrgeizig ist, darf natürlich weiterhin die trilliardste Mohnblume in minderwertiger Ausführung malen und damit das Harmoniebedürfnis und den Anspruch auf Inhaltlosigkeit kunstferner Niedlichkeitsfanatikerinnen befriedigen.
Alles dazwischen hat seine Berechtigung – Auf Existenz, Anerkennung und Wertschätzung. Nicht aber auf die Bezeichnung als Pionierleistung. Wo aber genau verläuft die Grenze zwischen „guter Kunst“ und Pionierarbeit? Ist nicht jede individuelle künstlerische Arbeit in ihrer Einzigartigkeit – weil eben die Erschaffenden einzigartig sind – absolut alleinstehend und somit neu? Und ist nicht die Performance jedes einzelnen Lebens schon innovative, individuelle und soziale Kunst? Das würde dann wohl bedeuten, dass wir allesamt Pioniere unseres Lebens sind. Ein schöner Gedanke in Zeiten der Pandemie. Die ist zwar nicht die erste, aber vielleicht die beste – zumindest aus Sicht des Virus. Für uns alle ist sie jedenfalls eine Premieren-Erfahrung, an der wir gestaltend teilhaben (müssen). Äußerlich durch Masken aller Art, innerlich durch die unterschiedlichsten Abwehr- und Verarbeitungsmechanismen, sozial durch Social Distancing und individuell durch möglichst KUNSTvolle Transformation.
Machen wir also das Beste draus und leisten wir Pionierarbeit!