Ich bin eine erfahrene Frau. – Allerlei erlebt, einiges gelernt, manches verstanden. Und nie vor Überraschungen sicher. Denn so ist das Leben: Es hat so unendlich viele Facetten, da hilft Erfahrung nicht immer. So manche, mich zur erfahrenen Frau machende Episode war schmerzhaft, aber wer möchte schon unerfahren in die Kiste springen? Wohl niemand! Würde es doch bedeuten, sich gleich nach der Geburt wieder zu verabschieden. Das Leben will gelebt sein und da braucht es Mut zum Risiko. Wer das scheut, sollte am besten gleich im Bett bleiben, sich von Muttermilch ernähren, Schlaflieder hören und Bilderbücher anschauen. Und er sollte sich keinesfalls Kunst ansehen.
In der Kunstbetrachtung liegt ja eines der größten Risiken für den erfahrungsscheuen Menschen überhaupt. Kunst ist materialisiertes Gefühl und wie jeder – auch aus Erfahrung – weiß, lässt sich das noch viel schwieriger regieren, als das Denken. Hard stuff, also, die Kunst. Aber gerade das Gefühl ist nun mal Grundlage der Erfahrung, denn im Gegensatz zum Wissen, das man sich ganz rational aneignen kann, macht man Erfahrungen völlig ohne Rekurs auf theoretische Kenntnisse. Einfach so, aus dem Bauch heraus und ganz persönlich. Dabei haben Erfahrungen keinerlei Anspruch auf Objektivität, sie müssen weder verifizier- noch falsifizierbar sein, sondern nur individuell wirksam. – Und das sind sie! Ich weiß es, denn wie schon gesagt: Ich bin eine erfahrene Frau.
Es soll ja Leute geben, die es irgendwie schaffen, sich Kunst anzusehen, ohne eine Kunsterfahrung zu machen. Eines der größten Mysterien der Menschheit! Aber wir anderen sind ausgeliefert: der Kunst, dem Gefühl und letztendlich, wie immer, uns selbst. Was aber nicht unbedingt von Nachteil sein muss, denn Selbstreflexion hat ja noch nie geschadet und auch hier kann es Überraschungen geben: (Selbst-)Erkenntnis ist nicht immer gleichzusetzen mit dem Blick in den Abgrund! Manches Kunstwerk setzt solcherlei Emotionen in uns frei, dass wir uns befreit fühlen, erhellt, inspiriert, ermutigt, berührt, beglückt oder sonst was. Bei solchen Begegnungen mit Kunst machen wir die Erfahrung von Wachstum oder Entfaltung. Wir blühen förmlich auf. Oder wir sammeln unsere Kräfte. Revolutionäre Kunst, die aufzeigt, was sich ändern muss – was wir ändern müssen – kann eine subtile Wirkmacht haben, die uns endlich auf die Barrikaden treibt. Und dann wieder die melancholischen, stillen Arbeiten. Die beruhigen. Machen uns traurig. Legen sich wie feuchtes Laub auf unsere Gedanken und lassen uns endlich fühlen, was bisher weggedacht wurde. Und natürlich gibt es noch die Kunst, die perfekt zum Sofa passt. Die passt perfekt zum Sofa. Sonst nix.
Der Unterschied zwischen einer Kunst-Erfahrung und allgemeiner Lebenserfahrung ist ein vertikaler. Letztere wächst mit den Jahren in die Breite, während Erstere in die Tiefe geht und Zeit nicht unbedingt eine Rolle spielen muss. Manchmal – und ich bin eine erfahrene – reicht eine einzige Begegnung mit einem Kunstwerk, um für alle Zeiten von dieser Erfahrung zu zehren. Natürlich bekommt man dennoch Lust auf mehr, was den Erfahrungsschatz vertieft. Erfahrungsschatz ist übrigens ein wunderbares Wort. Selbst die übelsten Erfahrungen werden so im Nachhinein zu einem kostbaren Gut und erleichtern den Friedensschluss mit ihnen.
Nach so viel Gefühl kann ein Digestiv am Ende nicht verkehrt sein: Die geistige Verarbeitung – denn Leonardo (da Vinci, natürlich) sagt: Das Wissen ist Kind der Erfahrung. Und meine Oma sagt: Aus Erfahrung wird man klug. Dafür sind zwei Sachen hilfreich: Etwas Kunsttheorie und ein guter Psychoanalytiker. Da ich bei 6000 Zeichen Schluss machen muss, bleiben wir bei der Kunst. Ein erweiterter Zugang zu inneren Erfahrungen eröffnet sich durch Information. Es kann ganz hilfreich sein, zu wissen, welche Künstlerin das Bild zu welcher Zeit gemalt hat. Wie überall im Leben spielt der Kontext eine wichtige Rolle und kann eine Arbeit mit komplett anderen Vorzeichen versehen. Das Revolutionäre eines schwarzen Quadrats (Malewitsch) erschließt sich erst auf dem Hintergrund der Zeit und des Suprematismus, Dalí und seine surrealistischen Kollegen nehmen Bezug auf die damals neuesten Theorien zur Psychoanalyse und Duchamps Readymades haben den Kunstbegriff noch weiter gesetzt, als all seine Vorgänger.
Will man über die direkte Erfahrung hinaus einen erkenntnisreichen Zugang zu einer Arbeit erlangen, ist Kunst von der Zeit und ihren Erschaffern und Erschafferinnen nicht zu trennen. Zum Verständnis eines Werkes verhilft auch, die Intention des Künstlers zu kennen. Kunst unterscheidet sich von Nicht-Kunst ja dadurch, dass die Künstlerin eine bewusste Aussage machen will. Natürlich kann man diesen Aspekt bei der Betrachtung ausblenden und sich nur auf die persönliche Erfahrung beschränken aber wenn wir von Erkenntnis und Wissen reden, ist die berühmt – berüchtigte Frage „Was will der Künstler damit sagen?“ zumindest interessant. Sie klingt bemüht und abgewetzt, aber genau das ist es doch, was zur geistigen Erschließung von Kunst führt – das Bemühen darum.
Man kann das runterbrechen auf eine einfache Formel der Kunstbetrachtung: erfühlen – erfahren – erarbeiten. Üben kann man das ganz wunderbar an Joseph Beuys oder an Jonathan Meese, die es beide verstanden haben, mit ihrer Kunst heftige Emotionen zu wecken, Kunsterfahrung zu provozieren und Erkenntnis zu ermöglichen – wenn man sich drauf einlässt. Letztendlich muss man zum Kunstverständnis nicht einmal auf große Künstler oder Künstler überhaupt zurückgreifen. Selbst die schlecht gemalte, hunderttausendste Mohnblume in Aquarell eignet sich zum Nachdenken. Darüber, wie groß die Sehnsucht nach oberflächlicher Harmonie ist, was in Wohnzimmern hängen darf, nur um nichts denken zu müssen, wie wenig Qualität ausreicht, um als ästhetisch zu gelten. Und ob das nicht auch seine Berechtigung hat.
Ich bin da noch zu keinem Schluss gekommen – obwohl ich doch eine erf…