„Das ist doch nicht mehr normal!“ schimpft die feine, ältere Dame in der Drogerie, als sie ohne Maske und mit 10 cm Abstand zu ihrem Vordermann in der Schlange von der Verkäuferin gebeten wird, Rücksicht zu nehmen. „Stimmt“, sagt der Mann vor ihr. „Ist nicht normal. Ist Pandemie.
Ich kann sie ja verstehen. Vermutlich ist sie überfordert. Vielleicht war Rücksichtnahme und soziales Denken noch nie so ihr Ding und plötzlich soll sie monatelang und überall das Wohl ihrer Mitmenschen im Blick haben. Und wird dann noch von einer einfachen Verkäuferin gemaßregelt! Lästig.
Es gibt wohl nur wenige Menschen, denen es nicht schwer fällt, sich immer und überall an die Regeln zu halten und je länger „es“ dauert, umso schwieriger wird es – dieses Herumkurven um die anderen, dieses Atmen durch die Maske, das ewige Hände Desinfizieren, Putzen und Aufpassen. Wenn sich wenigstens hin und wieder ein paar Corona-Zombies röchelnd durch die Straßen schleppen würden oder die Infizierten grüne Pickel hätten, wäre es einfacher, sich zu disziplinieren, aber irgendwie sieht alles aus wie immer, und die Sache bleibt abstrakt.
Sichtbar wird Corona nur auf den zweiten Blick. Wenn man beim shoppen dauernd an Schaufenstern vorbei kommt, in dem mit fetten Rabatten geworben wird, denn „Alles muss raus!“, oder man sich an der nächtlichen Stille erfreuen kann, weil der Nachtclub seine Dance-nights mit wild feierndem Jungvolk für immer eingestellt hat. Der Himmel hat kaum noch Kondensstreifen, Papi ist öfter zuhause, denn er macht Homeoffice, und die Kinder müssen nicht ständig zur Schule.
Was das für die Betroffenen bedeutet, klingt weniger idyllisch. Mehr und mehr Existenzen gehen an Corona-bedingter Auszehrung zugrunde, weil nun mal das rein physische Überleben über wirtschaftlichen Aspekten stehen muss. Dennoch: das mit anzusehen, ist schwer, und auch das führt dazu, dass sich so ganz subtil ein Gefühl von Frustration, Ohnmacht und Trotz breit macht. Ähnlich wie ein Kind, das beim Sport nie den Ball erwischt, möchte man Corona in den Hintern treten, die Arme über die Brust verschränken und „Ich spiel‘ nicht mehr mit!“ schreien.
Künstler*innen sind von den diversen Einschränkungen ebenso betroffen wie viele andere, die Teil des Wirtschaftslebens sind. Da sie aber, abgesehen von den wenigen, die zu den Spitzenverdienern in der Kunst gehören, im Durchschnitt ohnehin nur über ein Jahreseinkommen von um die 10.000,- Euro verfügen, ist ein Gewinneinbruch von 75 % absolut existenzbedrohend. Ihre wichtigste Plattform, die Galerien, richten vielleicht noch Ausstellungen aus, verzichten aber auf Vernissagen, Kulturveranstaltungen und Führungen. Messen, Auslandsausstellungen, Symposien sind abgesagt, und all das, was zum Kunst-Verkauf dazu gehört – der persönliche Austausch, der Flair von Ausstellungseröffnungen, der Sekt, das Zelebrieren der Kunst – fällt flach. Bildende Künstler*innen nutzen die Zeit vielleicht, um neue Arbeiten entstehen zu lassen, aber auch das ist nur möglich, wenn die Atelier-Miete bezahlt ist und der Kühlschrank noch Strom hat. Vollkommen ohne Einkommen sind die Künstler*innen, die von ihren Performances, Konzerten und Auftritten leben. YouTube und Instagram zahlen nichts für ihre Posts, mit denen sie verzweifelt darum kämpfen, überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Sie arbeiten für ein paar Likes.
Man kommt nicht umhin – diese Pandemie ist in jeder Hinsicht eine Katastrophe. Sie ist ein Desaster, ein Elend und eine Misere. Je mehr wir darüber lesen, sehen, hören, wissen und erfahren, umso stärker wird das Gefühl von Ohnmacht. Damit umzugehen, ist die Aufgabe, vor der wir alle stehen. Die individuellen Strategien zur Krisenbewältigung unterscheiden sich da sehr, manche sind zielführend, andere weniger. Was sicher helfen kann, ist die gute alte Hoffnung. Die Hoffnung, dass die Pandemie, ähnlich wie die Spanische Grippe, irgendwann von selber ihren Geist aufgibt, dass es bald einen gut verträglichen Impfstoff geben wird, dass ein Medikament wenigstens das Sterben an Covid-19 verhindert, dass wir bald wieder ungezwungen und frei leben können – und die Hoffnung, dass es uns und unsere Liebsten nicht selbst erwischt. Gefragt ist Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen durchzustehen und nicht daran zu zerbrechen.
Künstler*innen sind da klar im Vorteil. Für die meisten von ihnen ist Krise der Normalzustand. Sie haben Übung. Künstler gehören zu den am schlechtesten verdienenden Berufsgruppen der Welt. Wer Künstler*in sein will, muss Biss haben. Die Leidenschaft (und Leidensfähigkeit) von Künstler*innen tragen sicher dazu bei, dass Aufgeben für sie keine Option darstellt; ihre Fähigkeit, ungewöhnliche Wege zu beschreiten, ebenfalls. Sie verzweifeln nicht an der Frage nach dem „Warum“, sondern spielen mit dem Gedanken „warum nicht?!“.
Für sie steckt in allem das Potential zur Kunst, und so, wie aus Abfall durchaus gute Kunst entstehen kann, ist es auch möglich, Krisen als Teil einer Performance zu sehen. Der Blick von der Meta-Ebene, verbunden mit dem unbedingten Willen zur Gestaltung, ermöglicht Künstler*innen, Scheiße in Gold zu verwandeln. Shit happens. Machen wir ein Happening draus!
Wer jetzt glaubt, Künstler*innen seien Meister des positiven Denkens, irrt jedoch. Nach meiner Erfahrung sind viele von ihnen eher keine geborenen Optimisten. Das ihnen eigene, autonome Denken, ihre Sensibilität und Emotionalität verbieten es ihnen, (Welt)-Bilder ohne Schatten zu malen. Das hellste Strahlen kommt immer aus der Dunkelheit. Ihre Krisenfestigkeit erwächst vermutlich eher aus ihrem Hang zur Sinnsuche. Mit jedem neuen Kunstwerk stehen Künstler*innen vor der Aufgabe, ihrer Arbeit Geist zu verleihen; das ist das, was Kunst von Dekoration unterscheidet. Etwas Sinnhaftes an einer Pandemie zu entdecken, könnte also einen Zugang zu deren künstlerischer Gestaltung eröffnen. Aber was, bitte, gibt es Sinnhaftes an einer Pandemie? Nun, sie zwingt uns alle zu Veränderung. Jetzt verändert der Mensch nicht gern was, wenn er es sich mal bequem gemacht hat; deshalb fahren wir ja gerade sehenden Auges den Planeten an die Wand. Wenn wir aber dazu gezwungen sind, könnte dieser Zwang zur Chance werden, und Chancen sehen Künstler*innen sofort! Kunst ist Veränderung, und zwar in jeder Hinsicht. Sie verändert unsere Sicht auf die Dinge, zeigt neue Perspektiven, stellt Denkmuster in Frage, löst Rollenund Weltbilder auf, verzerrt, spiegelt, erneuert. Veränderung ist die kleine Schwester der Revolution. In Künstlerkreisen nicht nur geduldet, sondern erwünscht.
Genau deshalb kann DA CAPO auch nicht das sein, was wir uns wünschen sollten. Alles nochmal von vorne bedeutet Rückschritt. Immer. Von vorne zu beginnen, alles noch einmal zu wiederholen, ist sinnlos und im Übrigen auch nicht möglich. Das Leben ist ein fortwährender Strom, ein Meer, das nie dasselbe bleibt. Wie in der Seefahrt gilt es, Flauten durchzustehen, Stürme zu bezwingen und Wind von Achtern zu nutzen. Dabei bleiben auch wir selbst nicht dieselben. Wir sammeln Erfahrung. Schiffbruch zu erleiden, kann dazu gehören; es gibt ja noch das Rettungsboot. Das nächste Schiff wird besser. Corona ist ganz sicher ein Sturm nie gekannten Ausmaßes. Mehr als 840.000 Menschen sind bisher darin umgekommen und es gibt wenig Grund zu Optimismus. Aber es wird irgendwie weitergehen, wenn auch anders als bisher.