…ist das Beste, was Künstler und Künstlerinnen tun können. Wäre Corona kein Virus, sondern eine Künstlerin, dann wäre sie sicherlich die berühmteste Künstlerin der Welt – und in mannigfacher Weise auch die beste. Sie wäre all das, was Künstler immer sein wollten und die Kunst selbst sein sollte: kosmopolitisch, radikal, verändernd, bewegend und vorurteilsfrei.
Allein ihr Künstlername! CORONA! Sich selbst schon im Namen zu krönen, zeigt, wohin die Reise geht. Die Dame weiß, was sie kann, und macht keinen Hehl aus ihrer Intention: Weltherrschaft. Wenn sie sich während der Eroberung des Planeten einen Liebhaber gesucht hätte, wäre ihre Wahl sicher auf Jonathan Meese gefallen, dessen richtungsweisende Maxime: K.U.N.S.T. ist Weltherrschaft in ihren Ohren sicher wie eine Liebeserklärung klingen würde. Woran er noch arbeitet, hat sie im Handumdrehen zu Realität werden lassen. Corona ist omnipräsent. Sie ist um uns, sie ist Teil von uns; manchmal ganz physisch, und sie bringt uns dazu, unser Leben völlig neu zu überdenken. Und wie jede gute Künstlerin ist sie eine echte Radikalistka. Auch das würde Meese sicher gefallen. „K.U.N.S.T. ist die Zerstörung des Vorherrschenden, immer gewesen.“
Für die Betroffenen ist diese Zerstörung natürlich tragisch, aber nirgendwo steht geschrieben, dass man sich für die Kunst nicht ruinieren darf; genauso wenig wie für eine schöne Frau. Corona weiß das und fordert diese Bereitschaft konsequent ein. Geschichte, Literatur und Poesie liefern dafür zahllose Beispiele. Dafür bringt sie sich aber auch voll ein. Untätigkeit kann man ihr nicht vorwerfen, der Erfolg fällt ihr nicht in den Schoß. Und wie so oft bei der Kunst, weiß man nicht, ob es ihr mehr Lust oder Last ist. – Ich würde allerdings eher auf Lust tippen, angesichts des spektakulären Vermehrungserfolges. Apropos Vermehrung! Eine wie Corona würde es sicher nicht bei einem Liebhaber belassen. Allein in Deutschland käme da ja theoretisch auch noch Joseph Beuys infrage. Ich vermute, er würde sie anbeten, schon allein für die Umsetzung dessen, was er bereits in den 70ern definiert hat: Die Gesellschaft als soziale Skulptur! Eine Gesellschaft, die sich durch kreatives Handeln und Denken verändert und neu formt, mit kreativen Menschen, die weltweit gestaltend auf die Gemeinschaft einwirken.
Jeder Mensch ist ein Künstler! Unglaublich, welche Kreativität Corona in den verstaubten Köpfen freigesetzt! Undenkbares ist plötzlich nicht nur möglich, sondern machbar, neue Gedanken, irrwitzige Ideen und kunstvolle Konzepte sprießen aus den trockensten Hirnwindungen und treiben die seltsamsten Blüten – und diese Blüten verbreiten sich nicht nur in den Köpfen. Sie überwuchern wie Schlingpflanzen die Grundfeste unserer bisherigen, staatstragenden Säulen, bringen heilige Kühe zu Fall und Politiker um die Macht. Kurz: Corona macht genau das, was Beuys immer ersehnt hat: Sie versteht die Demokratie als Kunstwerk.
Ansonsten hält eine Königin wie sie überhaupt nichts von Demokratie. Welche Künstlerin fragt schon das Volk, welche Kunst sie schaffen darf? Das wäre das Ende der Kunst, wenn nicht gar das Ende der Welt. Dabei folgt sie selbst als Regentin der Menschenrechte. Für sie sind alle Menschen gleich. Es gibt auch keinen Impfstoff gegen die Kunst. Ob man reich oder arm, ungebildet oder gebildet ist – jeder Mensch kann von Kunst infiziert werden. Ob er daran erkrankt oder gesundet, ist eine Frage der Sichtweise. Ist man einmal von Corona und ihrem Werk befallen, helfen auch keine Medikamente. Man muss da durch, und wäre das ein Spaziergang, dann wäre Corona nicht Künstlerin, sondern Raumausstatterin. Manche hoffen auf Herdenimmunität. Wie kurzsichtig! Jeder weiß doch, dass sich die Kunst ständig wandelt.
Aber die Menschheit ist nun mal ein ängstliches Völkchen. Zwar hat sie den Mut, den ganzen Planeten, inklusive sich selbst, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vernichten, aber das hat sie eben selbst in der Hand. Vor Corona fürchtet sie sich, weil sie sich machtlos fühlt. Corona und ihre Kunst sind unregierbar und frei. Es gibt nichts Schlimmeres für die (Ohn)Mächtigen. Das könnte die große Stunde der Religionen sein, aber auch damit hat Corona nicht viel am Hut, besonders als Frau nicht. Sie besucht zwar auch die Gotteshäuser, tut aber nie viel in den Klingelbeutel. Allerdings auch nicht weniger.
Statt die Hände zu falten, setzen die Menschen auf der ganzen Welt Masken auf. WAS für eine Performance! Keinem Künstler ist es je gelungen, eine globale Kunstaktion dieses Ausmaßes zu inszenieren, an der nicht nur die hippe, urbane Szene teilnimmt, sondern die Oma von nebenan genauso wie die Kanzlerin, Heidi Klum, Harald Glööckler oder wer sonst noch Lippenstift trägt, den jetzt keiner mehr sieht. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass Haute Couture einmal ihren Ausdruck in Gesichtsmasken findet.
Corona scheint aber auch andere Konzepte und Stilmittel der Kunst in ihre Arbeit einzubeziehen, und wenn man mal genau hinsieht, kommen eine ganze Menge zusammen. Vielerorts hört man von einem surreal anmutenden Lebensgefühl mit Corona, Pläne und Vorhersagen bleiben vorerst abstrakt, politische Reden klingen wie Dada, die selbstgeschnittenen Frisuren sehen aus wie Naive Kunst, der Blick aufs Konto wirkt wie Hyperrealismus. Die Welt, wie Corona sie vorgefunden hat, wird von ihr zunächst zum Readymade deklariert, dann entschlossen verändert, und taucht als Konstruktivismus wieder auf. Corona hat dem erweiterten Kunstbegriff zu exponentiellem Wachstum verholfen.
Zum Glück für Corona werden alle Versuche, wieder zur K.U.N.S.T.-armen Normalität zurückzukehren von den Menschen im Keim erstickt. Sobald sie nämlich die Möglichkeit sehen, der anstrengenden kreativen Arbeit an der Sozialen Plastik durch Shoppen, Bratwurst und dem Verzicht auf künstlerisches Denken entkommen zu können, öffnen sie die Grenzen (des guten Geschmacks) und Souvenirläden. In den Hotelbetten und kuscheligen Restaurants könnte sich Corona dann zum Rendevouz mit anarchischen Künstlern und leidenschaftlichen Sammlern treffen. „Seid fruchtbar und mehret euch und macht euch die Welt untertan“, heißt der Trinkspruch, und Corona stöhnt vor Lust.
Leider ist Corona nur ein kleines, mieses Virus, das viel zu viele Menschen umbringt. Wäre es nicht schön, wenn es anders wäre?