Ein Gespenst geht um, in der Kunst. Jeder hat es schon mal gesehen, aber kaum einer erkennt es, wenn es erscheint. Klar sichtbar ist es nur, wenn es aus der Vergangenheit kommt. Geister der Gegenwart sind nebulöse Erscheinungen, die als Halluzinationen abgetan werden. Bestenfalls. Nicht selten wird mit Steinen nach ihnen geworfen.
Das war bei großen Geistern immer so und liegt in der Natur des Masterminds, der per Definition seiner Zeit voraus ist. In der Rückschau erfasst jeder Depp die geistige Größe und das Genie eines Leonardo da Vinci, aber zu seiner Zeit musste er sich mit dem Verdacht, er betreibe „magische Künste“ herumschlagen, er wurde der Leichenfledderei und Pietätlosigkeit angeklagt. Eines der außergewöhnlichsten Genies aller Zeiten wurde von vielen verkannt. Nun ist das Verkannt-Werden ja das ubiquitäre Trauma aller Künstler, die sich für etwas wahrhaft Großes halten. Darunter finden sich Dekorateure, die Halluzinationen mit Visionen verwechseln, Kopisten und andere, die bereits an der Idee scheitern. Natürlich auch handwerklich meisterhafte Könner ohne Geist sowie Philosophen, Rebellen und Weltenretter mit Mangel an Talent.
Form und Inhalt sollten schon zusammenkommen, wenn Kunst entstehen soll und dann gibt es noch den Innovationszwang. Spätestens daran scheitert’s meistens. „Gibt’s schon“ ist das Todesurteil für den Mastermind, und da es „nichts gibt, was es nicht gibt“, wird’s schwer. Außer man bewegt sich geistig auf eine höhere Ebene. Also höher als die des Horizonts der anderen. Oder man ist seiner Zeit voraus. Dann kann Kunst entstehen, die uns den Atem raubt. Die uns fassungslos und erschüttert zurück lässt, die sich wie ein Mysterium über uns senkt und uns daran zweifeln lässt, dass Gott wirklich tot ist. Dann sind wir einem Mastermind begegnet.
Sie oder ihn erkennen zu können, ist bereits ein Privileg. Und erkennen muss jeder selbst. Glaubt man nämlich den Galeristen, Kunstkritikern, Händlern, Sammlern und Laudatoren, sind wir von Masterminds geradezu umzingelt. Jeder von denen hat einen, es lohnt sich, da zu investieren! – Erkennen Sie nicht? Da kann man mal sehen! Mit Ihrer eigenen Unkenntnis beweist sich wieder einmal, wie weit der Meister von Ihnen entfernt ist. Andererseits: Ein solcher genialer Vordenker zeichnet sich nun einmal gerade durch seinen geistigen Vorsprung aus und ist für mittlere Geistesgrößen nicht unbedingt gleich identifizierbar.
Immerhin: Es gibt ein paar Anhaltspunkte. Ein Mastermind bricht mit Konventionen. Er bricht mit gegenwärtigen Werten und sogenannten Wahrheiten, sogar mit der Realität. Er hinterfragt Kultur, Wissenschaft und Moralvorstellungen. Das tun Psychotiker auch, wobei wir bei der alten Frage sind, was Genie vom Wahnsinn trennt.
Vielleicht dies: Er stellt Fragen − und er hat Antworten. Nun brauchen Geister bekanntlich ein Medium, durch das sie zu uns sprechen und die Kunst ist vielleicht das feinste Instrumentarium, durch das ein Mastermind sichtbar wird. Laut Hegel manifestiert sich der absolute Geist in Kunst, Philosophie und Religion. Für Ersteres braucht es allerdings neben Geist auch noch die kunstvolle Gestaltung, und wie die aussehen muss, ist klar: unvergleichlich, in Form und Inhalt überragend, nie dagewesen und originell. Keines dieser Attribute darf fehlen, und somit sind wohl die meisten von uns raus.
Trösten wir uns: Niemand weiß, wie ein Mastermind wird, was er ist. Es könnte also noch kommen. Wenn man nicht als solcher geboren wird, könnte man dran arbeiten. Oder auf die göttliche Inspiration warten, einen saftigen Musenkuss erhoffen oder schon mal das Denken üben, das schadet ja nie. Woher ich das weiß? Von Leonardo natürlich. Der soll gesagt haben: „Wer wenig denkt, irrt viel.“