Anja Es: Hintersinn im Vordergrund

Das ist kei­ne Kunst. Das Todes­ur­teil über die Arbeit kommt schnell, knapp und lei­den­schafts­los über so manch vor­ge­scho­be­ne Unter­lip­pe. Ein kur­zer Blick reicht und der Schei­ter­hau­fen der Ent­wer­tung ist um ein Kunst-Stück rei­cher. Wie so oft in der Geschich­te oder Gegen­wart, zeich­nen sich auch die Scharf­rich­ter der Kunst nicht durch Kennt­nis­reich­tum oder Fach­kun­de aus, son­dern durch Arro­ganz. Jetzt darf man über sol­che Zeitgenoss:innen nicht zu hart urtei­len, denn was als Arro­ganz bleibt ihnen denn noch, wo doch schon das Bewusst­sein, das Inter­es­se, die Selbst­wahr­neh­mung, das Den­ken und die Refle­xi­on feh­len? Arro­ganz ist das Ein­zi­ge, was ihnen den Anschein einer Per­sön­lich­keit ver­leiht und – mit ent­spre­chen­der Atti­tü­de zur Schau getra­gen – ihnen auch gewis­sen Respekt ein­bringt. Jeden­falls von denen, die auch kei­ne Ahnung haben.

Fin­de ich schei­ße, dage­gen ist voll­kom­men in Ord­nung. In der Sub­jek­ti­vie­rung liegt das Recht und die Frei­heit, irgend­was gut, schlecht oder sonst wie zu fin­den und dem auch Aus­druck zu ver­lei­hen. Über Geschmack lässt sich nicht strei­ten und das ist auch gut so. Man kann sich ein­fach abwen­den und den Blick lie­ber auf etwas rich­ten, das posi­ti­ve Gefüh­le in einem aus­löst. Damit wäre in bei­den Fäl­len die Kunst­be­trach­tung abge­schlos­sen: Wahr­neh­men, füh­len, urtei­len, han­deln. Das tun wir alle tau­send­mal am Tag. Wäre es anders, wären wir die gan­ze Zeit mit Den­ken beschäf­tigt und wür­den wahr­schein­lich am Ende aus­se­hen wie ver­geis­tig­te Gurus. Es kann lebens­wich­tig sein, schnell zu erfas­sen, ein­zu­ord­nen und spon­tan zu reagie­ren, denn wer über den Sinn des (Weiter-)Lebens nach­denkt, wäh­rend der Bus auf einen zukommt, dem bleibt höchst­wahr­schein­lich jeder wei­te­re Gedan­ke erspart. Auf der ande­ren Sei­te haben wir wohl alle die eine oder ande­re Situa­ti­on auf unse­rer Reue-Lis­te, in der man sich wünsch­te, vor­her über etwas län­ger und/oder tie­fer nach­ge­dacht zu haben. Natür­lich gibt es Berei­che, in denen das nicht ange­ra­ten ist, wenn man nicht sui­zi­dal wer­den will. Wer ein­dring­lich über die gro­ßen Ks unse­rer Gesell­schaft nach­denkt, wird Schwie­rig­kei­ten haben, danach sein kom­for­ta­bles Leben wei­ter­zu­füh­ren. Kin­der krie­gen hat sich dann z. B erledigt.

Ver­meint­lich gefahr­los hin­ge­gen kann man über Kunst nach­den­ken. Das bie­tet sich an, denn wer Kunst in all sei­nen For­men betrach­tet, hat meis­tens Zeit. Muse­ums- und Gale­rie­be­su­che fin­den ja oft in Muße­zei­ten statt und laden daher zu mehr ein als zu dem Vier­sprung aus Wahr­neh­men, Füh­len, Urtei­len und Han­deln. Für Denksportler:innen bie­tet sich der geis­ti­ge Sechs­kampf an: Wahr­neh­men. Unter­schei­det sich von der Wahr­neh­mung der Vier­sprin­ger ggf. nur durch die Inten­si­tät und Dauer.

Füh­len. Das ist schnell, schnel­ler als das Licht. Wir füh­len, bevor wir den­ken, dar­an ist nichts zu ändern. Da das Füh­len nichts mit Den­ken, aber viel mit dem Unbe­wuss­ten, der per­sön­li­chen Geschich­te und Neu­ro­sen zu tun hat, ist es dem prä­ven­ti­ven Zugriff durch unser Bewusst­sein ent­zo­gen. Der geüb­te Geist regis­triert das Gefühl­te und ver­sucht, es ins Licht der Selbst­wahr­neh­mung zu stel­len. Natur­ge­mäß ist das nicht immer ange­nehm, denn beson­ders die unschö­nen Gefüh­le wie Selbst­hass, Neid, Angst oder Wut hat man ja eigent­lich nicht. Wie­so, zur Höl­le, ruft dann die­ses Kunst­werk aus­ge­rech­net so ein Gefühl her­vor? Woher kommt mei­ne Abnei­gung, die man so gese­hen wohl Abwehr nen­nen muss? Sieht mein Auge viel­leicht etwas, das ich selbst nie imstan­de wäre, zu schaf­fen und höre ich mei­nen Mann spre­chen, der schon immer der Mei­nung war, ich hät­te lie­ber den Fri­seur­sa­lon mei­ner Mut­ter über­neh­men sol­len? Macht mei­ne eige­ne Lebens­bi­lanz mich so wütend? Kommt die Beklem­mung beim Betrach­ten aus mei­ner Erin­ne­rung oder aus mei­nem Drang, mich end­lich von was auch immer zu befrei­en? Muss ich die Arbeit abwer­ten, weil ich die Künst­le­rin ken­ne und ihr außer ihrer Frei­heit nicht auch noch den Erfolg gön­ne? Oder aber basiert mein nega­ti­ves Gefühl auf einer fach­li­chen Ein­schät­zung? Schon tau­send­mal gese­hen und fast immer bes­ser? In jedem Fall kommt es beim Sechs­kampf an die­ser Stel­le zu einer reflek­tier­ten Betrach­tung des eige­nen emo­tio­na­len Emp­fin­dens, selbst wenn die ulti­ma­ti­ve Selbst­er­kennt­nis aus­blei­ben sollte.

Erst jetzt unter Berück­sich­ti­gung der eige­nen Sub­jek­ti­vi­tät, die übri­gens bes­ten­falls mit der Fähig­keit sich selbst gegen­über nach­sich­tig und gütig zu sein, ein­her­geht, kommt der kogni­ti­ve Teil, also das eigent­li­che Den­ken. Beim Den­ken kann Bil­dung nicht scha­den und da haben es Leu­te mit ent­spre­chen­der zere­bra­ler Hard- und Soft­ware natür­lich ein­fa­cher. Aber auch ohne Ahnung kann man Fra­gen stel­len und manch­mal Ant­wor­ten fin­den und wie beim Sport führt Trai­ning zu bes­se­rer (Denk)Leistung. Eine Schin­de­rei ist es den­noch manch­mal, wes­halb ich des Öfte­ren auf ein pro­fun­des Halb­wis­sen zurück­grei­fe – und dabei auf den Groß­mut mei­ner Mit­men­schen setze.

Kunst­theo­re­ti­sches oder kunst­his­to­ri­sches Wis­sen, ja Wis­sen all­ge­mein ver­ein­facht den Zugang zur Kunst unge­mein. Beim Kon­sum von Musik ist uns das schon lan­ge in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen. Meis­tens kön­nen wir ein­ord­nen, wel­che Art von Musik wir hören, wir ken­nen die Interpret:innen und wis­sen oft rela­tiv viel über die Band, die Zeit, in der die Musik ent­stan­den und auf wel­chem gesell­schaft­li­chen Mist sie gewach­sen ist. Im Kon­text aller Gege­ben­hei­ten erscheint uns Musik in einem ande­ren, leben­di­ge­ren Licht, als wenn wir sie ohne Wis­sen anhö­ren wür­den – Ist mit Kunst nicht anders. Nach dem Fer­tig­den­ken kommt das Abwä­gen auf dem Hin­ter­grund von Ethik, Moral, Fak­ten und Geist und erst dar­aus kann sowas wie Hal­tung ent­ste­hen, die es wert ist, geäu­ßert zu wer­den – und zwar nach wie vor als per­sön­li­ches State­ment, denn mit Objek­ti­vie­rung hat weder die bes­te Selbst­re­fle­xi­on noch das umfas­sends­te Wis­sen zu tun. Natür­lich macht es viel mehr Spaß, die gewon­ne­ne Hal­tung als glo­ri­fi­zie­ren­de Begeis­te­rungs­sal­ve auf den gefei­er­ten Künst­ler oder die gött­li­che Diva abzu­feu­ern oder als ätzen­den Ver­riss eines mie­sen Mach­werks, das das Licht beschmutzt, das es bescheint. Aber dann wäre die gan­ze Den­ke­rei im Vor­we­ge ja Per­len vor die Säue.

Refle­xi­on ist kei­ne Ein­bahn­stra­ße, wes­halb nicht nur die Betrach­ter bemü­ßigt sind, sich und die prä­sen­tier­te Arbeit zu hin­ter­fra­gen, son­dern auch für die Erschaffer:innen von Kunst selbst ist sie eine Opti­on. Opti­on des­halb, weil Kunst auch ohne reflek­tier­ten Schöp­fungs­pro­zess Kunst bleibt. Den­noch sind gesell­schafts­po­li­ti­sches Bewusst­sein und eine geschul­te Selbst­wahr­neh­mung beim künst­le­ri­schen Arbei­ten ein Qua­li­täts­merk­mal, das dem Werk eine ande­re Tie­fe geben kann, ihr manch­mal Bedeu­tung ver­leiht, die über das Ästhe­ti­sche weit hin­aus geht. Künst­ler: innen dazu mora­lisch zu ver­pflich­ten, wider­spricht dem Frei­heits­prin­zip der Kunst, die alles darf und nichts muss.

Halt … ist das so? Der Skan­dal der Docu­men­ta Fif­teen lässt dar­an zwei­feln und setzt der Kunst Gren­zen. Kritiker:innen sehen hier sowohl einen ekla­tan­ten Man­gel an Refle­xi­on der Künst­ler, die hät­ten wis­sen müs­sen, was ihre Arbei­ten auf dem gesell­schaft­li­chen und his­to­ri­schen Hin­ter­grund aus­lö­sen wür­den, als auch an der Refle­xi­on der Macher:innen, die offen­bar ziem­lich unre­flek­tiert gezeigt haben, was ihnen pas­send schien. Das war ein Faux­pas ohne Zwei­fel und unent­schuld­bar. Es stellt sich (jeden­falls mir) jedoch die Fra­ge, inwie­fern sich die Bewer­tung die­ser Ent­schei­dung ver­än­dern wür­de, hät­te der Prä­sen­ta­ti­on ein reflek­tier­ter und bewuss­ter Ent­schluss zugrun­de gele­gen – ein geziel­ter Tabu­bruch der schlimms­ten Art. Ver­mut­lich hät­te man sich schon aus ethisch-mora­li­schen Grün­den dage­gen ent­schie­den, aber eine sol­che Ent­schei­dung hät­te deut­lich gemacht, dass die Docu­men­ta mehr ist als nur die Glit­zer­show der aktu­el­len Kunst. Ver­ein­zelt wäre viel­leicht der Vor­wurf der Selbst­zen­sur zu hören gewe­sen, aber die Gewich­tung von Zen­sur auf der einen Sei­te und der Wür­de des Men­schen auf der ande­ren soll­te klar sein.

Schlie­ßen wir mit einem ver­söhn­li­chen Blick in den Spie­gel, der übri­gens nie zeigt, wie wir aus­se­hen, son­dern uns mit unse­rem Spie­gel­bild abspeist. Wie auch immer wir in ihn hin­ein­schau­en – er schaut eben­so auf uns. Schen­ken wir ihm ein alber­nes Lächeln und den­ken einen Moment lang nicht dar­über nach, was so lus­tig sein soll.

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