Stuhl ohne Lehne: Die ganze Welt wird Stillleben

A.Krasulin in sei­nem Ate­lier in Mos­kau, 2005 Foto Chris­ti­ne de Grancy, 

Andrej Kra­su­lin ist ein „abs­trak­ter“ Künst­ler, ein die Wahr­haf­tig­keit des Rea­len abs­tra­hie­ren­der Leser der Welt. Durch die Attrap­pen kulis­sen­ar­ti­ger Wirk­lich­keit kämpft sich die Gier nach der Wahr­heit des Künst­lers durch. Kra­su­lins Arbei­ten wer­den ger­ne als Ent­wick­lung der von Michail Maty­us­hin ange­führ­ten orga­ni­schen Tra­di­ti­on der rus­si­schen Avant­gar­de gedeu­tet, in der der Künst­ler nun weni­ger nach dem gesell­schaft­li­chen Außen als viel­mehr in das poli­ti­sche Innen blickt.

Doch Kra­su­lin ist Ein­zel­gän­ger, ein Step­pen­wolf im Gedrän­ge der Kunst­welt, er bezwei­felt jeg­li­che Zuge­hö­rig­keit an sich. Trotz aller Ableh­nung der offi­zi­el­len Kunst war Kra­su­lin nicht Mit­glied und betei­lig­te sich nicht an der Pro­test­be­we­gung des hei­mi­schen Unter­grunds, son­dern gehör­te, damals in der Sowjet­uni­on, zu den Monu­men­ta­lis­ten. Und er ist ein Monu­men­ta­list geblie­ben, weil er dem Beschei­de­nen auf unauf­dring­li­che Art und Wei­se ein­drucks­vol­le Grö­ße gibt.

Es han­delt sich aber nicht um das Potem­kin­sche Dorf der Arbei­ter und Kol­chos­bäue­rin, d.h. nicht das Monu­men­tal­künst­le­ri­sche einer res exten­sa, son­dern um die res cogi­tans des Reli­giö­sen, um das Monu­ment der Sehn­sucht des Men­schen und sei­nen Ver­su­chen, dem Höchs­ten gleich­zu­kom­men. Wäh­rend das gan­ze Land dem künst­le­ri­schen Blick ein Denk­mal aus rost­frei­em Stahl set­zen möch­te, strebt Andrej Kra­su­lin danach, gera­de die­sen Kor­ro­si­ons­ver­lauf des Daseins auf­zu­zeich­nen. Er ver­wen­det Roh­stof­fe, um den monu­men­ta­len Anspruch natio­na­len Stol­zes in eine Abkehr vom kau­sal ange­leg­ten Natu­ra­lis­mus in Rich­tung meta­phy­si­scher Imma­te­ria­li­tät zu über­set­zen. Es geht in die­sem Werk nicht um das Ich des Wir, son­dern um das Wir des Ich.

Das intrin­sisch moti­vier­te Rin­gen mit dem Nihi­lis­mus des Rus­sisch-Ortho­do­xen zeigt sich in der stil­len Kon­tem­pla­ti­on eta­blier­ter Ein­sam­keit und nicht in der geist­lo­sen Nach­ah­mung des Uner­kann­ten. Das figu­ra­ti­ve Ele­ment hat nach dem Ver­bot der Avant­gar­de durch Sta­lin die rus­si­sche Kunst mit dem Virus der Gegen­ständ­lich­keit infi­ziert, der Zwang des Imi­tie­rens hat die sich empor­ar­bei­ten­de und vor­kämp­fen­de Gesin­nung in die sta­gnie­ren­de War­te­schlan­ge plat­ziert. Das Land, das einst die abs­trak­te Kunst aus ihrem Schlum­mer geweckt hat­te, hat eben­die­ses ver­we­sent­li­chen­de Bestre­ben des Schöp­fe­ri­schen wie­der ver­bannt. Das auf die Sub­stanz ver­dich­ten­de Mühen des Men­schen, der sich nicht nur der Zukunft, son­dern auch Gott nähern möch­te, hat der Kom­mu­nis­mus mit der Wur­zel aus­ge­ris­sen, und die Sowjet­uni­on hat die­sen Leit­ge­dan­ken tra­diert und gehü­tet. Des­we­gen hat der Kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv kei­ne Freu­de in Russ­land, weil er dort per­sön­lich­ge­nom­men wird. Die Ent­wei­hung in den Kos­mos des Supre­ma­tis­mus hat sich mit Kra­su­lin auf die Erde beruhigt.

Der Akt der Befrei­ung will sich nicht ört­lich deter­mi­nie­ren las­sen. Die Auto­no­mie muss nicht mehr weg, um bei sich zu sein. Der Holz­bal­ken sym­bo­li­siert nicht nur die ange­streb­te gegen­stands­lo­se Frei­heit, er ist sie schon. Sei­ne Skulp­tu­ren wol­len Model­le sein, Gott zu erken­nen, es sind sakra­le Erkennt­nis­mög­lich­kei­ten. Auf sehr inti­me Wei­se ver­mi­schen sich die all­täg­li­chen Mate­ria­li­en der Arte Pove­ra mit der Mys­tik des Kon­struk­ti­vis­mus in Kra­su­lins Werk. Dos­to­jew­skis Roman Arme Leu­te spricht durch Kra­su­lins Arbeit zu den lau­schen­den Augen der Men­schen. Das schlam­pig Plat­zier­te ist bei ihm mit äußers­ter Sorg­falt geschlif­fen. Das Gewis­sen spricht aus dem Cha­os. Die soli­de Raum­in­stal­la­ti­on aus Metall, Holz und Papier wirkt wie ein Rück­zug der Zeit, ein Gebet des Pri­va­ten, das kein Äqui­va­lent in der Wirk­lich­keit fin­det. Wie ver­äu­ßert sich die inne­re Emi­gra­ti­on? Wie lässt sich das Unbe­stimm­te adap­tie­ren? Kra­su­lin gibt der Ver­sie­gelt­heit im Elend des All­tags Luft zum Atmen, weil er in den Gegen­stän­den Fens­ter ins Über­sinn­li­che ver­nimmt. Der ver­meint­li­che Zufall wird zur sym­bo­li­schen Geschichts­schrei­bung. Das Freie fällt immer unter eine Regel, sie ist nicht blo­ße Will­kür. Kra­su­lins Objek­te haben den Hoch­be­trieb der Rou­ti­ne ver­las­sen, sie sind der rekur­si­ven Ver­ket­tung der Zeit ent­wi­chen, um nicht von ihr erstickt zu wer­den. Den Din­gen wird ihre Frei­heit gewährt. Die Höhen­angst, mit der jeder sei­nem ein­stu­dier­ten Schick­sal begeg­net, kann den Stuhl als Stuhl in der Welt des Abs­tra­hier­ten nicht mehr ein­ho­len. Das All­be­kann­te zieht sich in die Frem­de des Sym­bo­li­schen zurück und wird zu einem der unzu­gäng­lichs­ten Orte des Erkennens.

Zer­brech­lich ist das Metall in Andrej Kra­su­lins Welt, weil in die­ser alles gezeich­net ist. Der Gefahr rohen Zuge­gen­seins ent­reißt er sei­ne Moti­ve und erlöst sie in die Unver­wund­bar­keit der Kunst. Sei­ne Unre­a­dy- mades, die man­nig­fach nach­ge­stal­te­ten Sche­mel, ver­ber­gen ihren wah­ren Zweck, sie haben sich aus der Dok­tor­schrift ihrer ver­meint­li­chen Bestim­mung befreit. Sei­ne zahl­rei­chen Reli­efs hal­ten das Unbe­stimm­te des Abschieds fest. Die Innen- mit der Außen­welt ver­ei­ni­gend, beschwö­ren sie das bereits Ver­bli­che­ne. Das Extrakt ein­ge­zo­ge­nen Befin­dens gibt sich der Bewah­rung des Ver­schwin­dens hin. Der Ver­wais­t­heit der Lethe setzt der Schöp­fer ein Denk­mal, das sich plas­tisch vom Hin­ter­grund des Jen­seits abhebt und einer unbe­wohn­ten Umwelt einen Gruß ent­bie­tet. Der Künst­ler nimmt sich einer archäo­lo­gisch-topo­gra­fi­schen Kar­tie­rung der Geschich­te an, der zum All­ge­mein­be­griff gestei­ger­ten Bio­gra­fie des anony­men Ein­zel­nen. Die Kunst­wer­ke lie­gen als Arte­fak­te des Ver­ges­se­nen in den Ecken des Ate­liers her­um, so wie sie an Gale­rie­wän­den hän­gen, fehl am Platz und auto­nom. Es ist ein immer glei­ches Auf-der-Höhe-der-Zeit. Das Destil­lat des Moder­nen hat zu jeder­zeit den­sel­ben Klang, den Schliff des Kai­ros. Es ist das gene­tisch Welt­klu­ge des Men­schen, dass er die Stim­me des Lei­sen ver­nimmt, und sich damit der Pro­vinz blo­ßen Zuge­gen­seins ent­ge­gen­setzt. Des­we­gen schweigt Kra­su­lin. Das Nicht-offen-Zuta­ge­tre­ten des Offen­sicht­li­chen macht die Ele­ganz der Ewi­gen aus.

Die Inva­li­di­tät sinn­li­cher Anwe­sen­heit demons­triert uns die Aske­tik des Werks. Kra­su­lin hütet und ehrt das uns nur zum Teil offen­bar­te Dasein der Mate­rie. Fra­gil win­det sich das Eigen­sin­ni­ge gro­ben Mate­ri­als. Das Holz besteht aus Wachs, und Metall schmilzt zum Sie­gel. Die aus ihrer Beru­fung eva­ku­ier­ten Gegen­stän­de ver­wei­len in fried­li­cher Ver­schla­gen­heit. Es ist die erha­be­ne Armut des Mate­ri­el­len und das Imma­te­ri­el­le des Mit­tel­lo­sen, das die unbe­frie­dig­ten Grund­be­dürf­nis­se irdi­scher Exis­tenz künst­le­risch beur­kun­det. Als Sohn eines Forst­wis­sen­schaft­lers tran­szen­diert Kra­su­lins Blick das kal­ki­ge Gewe­be der Spross­ach­sen. Frei und neu­gie­rig kommt er der meta­phy­si­schen Sehn­sucht des Ver­holz­ten entgegen.

Kra­su­lins Male­rei entbleit zur Zeich­nung, und sei­ne Zeich­nung bezich­tigt sich der Male­rei. Es ist die immer­wäh­ren­de Hand­schrift des Sub­li­men, die das Edle des Ver­lot­ter­ten kund­tut, der Ernst, der der pro­sa­ischen Unge­nau­ig­keit ihre poe­ti­sche Wür­de zurück­gibt. Kra­su­lins archai­sche Lini­en­füh­rung offen­bart uns die wah­re Natur der Natur. Genier­lich plat­zie­ren sich ver­schie­de­ne Grund­far­ben auf dem begü­tig­ten Ruin der Ver­wüs­tung. Auf Scher­ben schlich­tet der Künst­ler aus Scher­ben eine ande­re Welt. Auf lei­sen Soh­len nähern sich aus ver­schie­de­nen Rich­tun­gen kom­men­de Bild­schlä­ge zum schick­sal­haf­ten Arran­ge­ment eines mensch­li­chen Zustands, zum Arche­typ schleift Kra­su­lin den Fremd­ling. Er ver­traut uns die Aus­er­le­sen­heit des Grob­schläch­ti­gen an und weiht uns in die Unge­len­kig­keit des Mit-sich-selbst-nicht-Iden­ti­schen Russ­lands ein. Bei Kra­su­lin ver­schwimmt das akku­ra­te geo­me­tri­sche For­men­vo­ka­bu­lar des Kon­struk­ti­vis­mus zu wagen Vermutungen.

Die Pro­phe­zei­ung lässt sich nicht auf einen bestimm­ten Zeit­punkt beschrän­ken, es ist das Ewi­ge der Sekun­de und nicht bloß das Minu­tiö­se der Ära, das sich in den Relik­ten inten­dier­ter Aus­sa­gen dar­stellt. Durch Kra­su­lins Werk spricht die unauf­find­ba­re heim­ge­such­te rus­si­sche See­le. Das leid­ge­plag­te War­ten eines Kin­des, das alt gewor­den ist, per­so­ni­fi­ziert durch das dünn besie­del­te Dickicht eines ergrau­ten Bir­ken­walds. Sein drei­fü­ßi­ger Hocker ist das Opfer einer Zwei-Wel­ten-Leh­re, eines zwi­schen Tun und Traum ein­ge­klemm­ten Pos­tu­lats, dass Mensch heißt. Drei­fal­tig ist der rus­si­sche Dua­lis­mus, ant­ony­misch ver­fass­te Huma­ni­tät, Erlö­sung durch Selbst­ver­skla­vung und umge­kehrt. Das Dop­pel­phi­lo­so­phi­sche exhi­biert sich durch den stän­di­gen Zank zwi­schen einem kom­pro­miss­lo­sen Idea­lis­mus und einem apa­thi­schen Mate­ria­lis­mus. Die geis­ti­ge Träg­heit steckt mit dem höchs­ten Gebot in einer Brust, in der ein gebro­che­nes Herz klopft, das sich mit sei­nem Aggres­sor iden­ti­fi­ziert, mit dem Selbst.

Das Unbe­stimm­te der Ein­sam­keit hetzt durch das ent­völ­ker­te Bewusst­sein des größ­ten Lan­des der Welt. Die Kon­tras­te rei­chen sich erst im Jen­seits des Kunst­werks­die Hän­de. Wie namen­lo­se Stra­ßen­schil­der wir­ken Andrej Kra­su­lins anein­an­der mon­tier­te Holz­leis­ten, so als hät­ten sich die uner­gründ­li­chen Wege des Herrn zu einem Ziel ver­ei­nigt, zur loka­len Ein­heit des Stre­bens. Fast möch­te man Andrej Kra­su­lin fol­gen, und auch durch die­ses Seits wie ein Muse­ums­be­su­cher schlen­dern, wobei die gan­ze Welt zum Still­le­ben wird, eine cezan­ni­sche Datie­rung der Gegen­wart in das Zeit­lo­se. Ein­ge­gipst in das unaus­rott­ba­re mensch­li­che Bedürf­nis nach dem Geständ­nis ver­hehlt uns die Kunst die Wahr­heit.  Jedes Objekt hat sei­ne Passionsgeschichte.

Es ist gera­de die künst­le­ri­sche Unvoll­endet­heit, die den Kunst­ge­gen­stän­den iko­ni­schen Cha­rak­ter gibt, ein Ruf nach dem Leben, das sich im Tode zeigt. Auf dem Tabu­rett thront der König. 

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1986 in Eupatoria, Krim geboren, lebt als freie Autorin und Malerin in Wien. Kunststudium an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Ausstellungen in Wien und Moskau und Publikation in Literaturmagazinen. Studium der Philosophie

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