Andrea Boschetti

Facettenreich wie ein Kaleidoskop

Wir tref­fen den Archi­tek­ten und Visio­när Andrea Boschet­ti, der mit sei­nem Stu­dio Metro­gram­ma welt­weit Pro­jek­te im Bereich Urba­nis­tik, Archi­tek­tur, Design und For­schung umsetzt.

In der Tri­en­na­le in Mai­land, dem Hot­spot für Archi­tek­tur & Design spre­chen wir mit Andrea Boschet­ti über gekonn­te Stadt­pla­nung, sei­ne Visi­on der sub­ur­ba­nen Stadt Medi­ter­ra­nea und dar­über, wie Archi­tek­tur und Urba­nis­tik alle Lebens­be­rei­che beein­flus­sen und viel­leicht in Zukunft sogar Aus­lö­ser für ein neu­es euro­päi­sches Steu­er­mo­dell sind.

Andrea Boschet­ti beschreibt sei­ne Arbeit und sein Stu­dio Metro­gram­ma, das vor über 20 Jah­ren gegrün­det wur­de, als ein Kalei­do­skop. „Unse­re Arbeit hat die vie­len Facet­ten eines Kalei­do­skops. Die Archi­tek­tur bedeu­tet für mich nicht Spe­zia­li­sie­rung, son­dern ich sehe sie als Teil der Human­kul­tur. Des­halb set­zen wir viel­fäl­ti­ge Pro­jek­te im Bereich Design, Urba­nis­tik, Land­schafts­ent­wick­lung, Archi­tek­tur, For­schung und sogar im Bereich der bil­den­den Kunst um.“ Sein Stu­di­um in Vene­dig hat sei­ne huma­nis­ti­sche Sicht auf die Archi­tek­tur geprägt. Er nimmt mit die­sem Ansatz ger­ne das Risi­ko auf sich kei­ne Spe­zia­li­sie­rung auf­wei­sen zu kön­nen, aber er will die­sen Ansatz bei­be­hal­ten. „Ich leh­ne es nicht ab Archi­tekt und Desi­gner zu sein, im Gegen­teil: Ich erar­bei­te Pro­duk­te im Luxus­be­reich für Mar­ken wie Fen­di und Bug­at­ti. Hier hin­ter­fra­ge ich gemein­sam mit Luxu­ry Lea­ding Inte­ri­or bei­spiels­wei­se was heu­te über­haupt Luxus ist.“ Span­nend fin­det er aber den­noch die Viel­fäl­tig­keit sei­ner Posi­tio­nie­rung mit Metro­gram­ma. Nach einem ähn­li­chen Mus­ter rekru­tiert Boschet­ti auch sei­ne Mit­ar­bei­ter: „Ich suche nicht nach Men­schen, die bereits fach­lich aus­ge­reift sind, son­dern nach jenen, die Lust an der For­schung haben, Enthu­si­as­mus und Lei­den­schaft mit­brin­gen.“ Ein span­nen­des Pro­jekt, in das Metro­gram­ma bei­spiels­wei­se invol­viert ist, ist die Ent­wick­lung des „Inno­va­ti­on Design Dis­trict“ in Mai­land. Gemein­sam mit Vol­vo wid­met sich das Team von Boschet­ti hier der Mobi­li­tät der Zukunft, denn letzt­end­lich hängt die phy­si­sche Ent­wick­lung der Stadt stark mit der Ent­wick­lung der Mobi­li­tät zusam­men: „Wir über­le­gen uns Sze­na­ri­en, wie sich die Men­schen in der Stadt der Zukunft bewe­gen wer­den, viel­leicht fal­len vie­le Bar­rie­ren weg, weil die Auto­ma­ti­sie­rung des Fah­rens den Ver­kehr redu­ziert und immer mehr öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel zum Ein­satz kommen.

Das wür­de bedeu­ten, dass es mehr öffent­li­chen Raum gibt, den sich die Men­schen mit­ein­an­der tei­len u.s.w.“ Die­ser Ent­wick­lungs­be­reich ragt weit über das rei­ne Erstel­len eines Stadt­plans hin­aus. Hier benö­tigt man visio­nä­res Den­ken. Und dar­in liegt Andrea Boschet­tis Stär­ke. Er ist über­zeugt, dass die gro­ßen Städ­te in Euro­pa nicht mehr das Bedürf­nis haben zu wach­sen, son­dern, dass sie ihre Stadt­tei­le auf­wer­ten müs­sen, indem Raum für Kul­tur geschaf­fen wird. „Das Ver­hält­nis zwi­schen öffent­lich und pri­vat muss neu gedacht wer­den“, unter­streicht er. In New York wur­den bereits Anfang der 60er Jah­re die soge­nann­ten „pops“ (pri­va­te­ly owned public spaces) ein­ge­führt. Das sind öffent­lich nutz­ba­re Räu­me, die sich in pri­va­tem Besitz befin­den. Die in der New Yor­ker Zonen­bau­ord­nung ver­an­ker­te Stra­te­gie des „incen­ti­ve zoning“ gewährt Bau­her­ren, die auf ihrem Grund­stück einen öffent­lich nutz­ba­ren Raum errich­ten, einen Bonus in Form von zusätz­lich geneh­mig­ter Geschoss­flä­che. Die­ser Tausch – öffent­lich zugäng­li­cher Raum gegen zusätz­lich geneh­mig­te Geschoss­flä­che – ist laut Boschet­ti also nichts Neu­es. Genau an sol­chen Orten kön­nen krea­ti­ve und kul­tu­rel­le Hot­spots ent­ste­hen, die der Öffent­lich­keit gehö­ren. Boschet­ti geht nun in sei­ner Visi­on einen Schritt wei­ter: “Stellt euch vor die­se pops ent­ste­hen in den Gebäu­den. Gro­ße Bau­ten, die im Innen­hof, auf dem Dach, Flä­chen der öffent­li­chen Nut­zung zur Ver­fü­gung stel­len. Hier kön­nen Gär­ten, Wäl­der, Kunst­wer­ke, kul­tu­rel­le Ein­rich­tun­gen ent­ste­hen. Orte, die vom Pri­va­ten der All­ge­mein­heit zur Ver­fü­gung­ge­stellt wer­den. Wesent­lich wird aber neben dem urba­nen Raum zukünf­tig auch die Pla­nung der sub­ur­ba­nen Gebie­te, die der­zeit stark unter Ver­nach­läs­si­gung leiden.“

Hier ent­springt eine sei­ner nächs­ten gro­ßen Visio­nen, die ihn laut eige­ner Aus­sa­ge, wahr­schein­lich sein gan­zes Leben beglei­ten wird. Es ist jene der Stadt Medi­ter­ra­nea: „Medi­ter­ra­nea ist eine Art Geschich­te, die ich kre­iere, um zu ver­ste­hen was ich eigent­lich mache.“ Medi­ter­ra­nea ist kei­ne Stadt im eigent­li­chen Sin­ne, son­dern Andrea Boschet­ti hat sich über­legt, was mit all den sub­ur­ba­nen Ter­ri­to­ri­en zwi­schen den euro­päi­schen Groß­städ­ten pas­siert, wenn sich die Städ­te neu über­den­ken und neu qua­li­fi­zie­ren und vie­le Men­schen in die Stadt zie­hen. Um die­se For­schung nicht zu groß anzu­le­gen, hat er sich auf Ita­li­en und die umlie­gen­den Län­der konzentriert.

Andrea Boschet­ti

Man emp­fin­det meist jene Städ­te als har­mo­nisch, in denen die Lee­re der eigent­li­che Prot­ago­nist zwi­schen den Bau­ten ist. 

Vie­le länd­li­che Gebie­te in Ita­li­en gera­ten in Ver­ges­sen­heit, wur­den durch die star­ken Erd­be­ben zer­stört und es wird stei­gen­de Abwan­de­rung ver­zeich­net. In einst sehr bekann­ten Orten, in denen gro­ße Künst­ler wirk­ten, wie bei­spiels­wei­se Luc­ca oder Urbi­no, hat man zu weni­ge Res­sour­cen, um Kon­zep­te zu erar­bei­ten. „Also plan­te ich mit­hil­fe eines Map­pings eine Stadt, die alle Gebie­te, die aus­ge­hend von den Alpen bis nach Sizi­li­en und Sar­di­ni­en auf einer Mee­res­hö­he zwi­schen 800m und 1320m lie­gen, umfasst. Den Rest habe ich gelöscht. Das war die Geburts­stun­de mei­ner Medi­ter­ra­nea, einer Sil­hou­et­te, die sich wie eine Grand Dame in das Meer hin­ein­schmiegt und Sinn­bild für die See­le und den Geist einer Kul­tur ist, die Gefahr läuft in Ver­ges­sen­heit zu gera­ten.“ Boschet­ti hat also den Traum einer ver­ti­ka­len Stadt und er möch­te die­ses visio­nä­re Pro­jekt auch wei­ter vor­an­trei­ben, denn es beinhal­tet neben dem kul­tu­rel­len auch einen poli­ti­schen Aspekt: „Es ist weder eine Stadt des Südens noch eine des Nor­dens, son­dern eine ein­zi­ge Stadt, die Nor­den und Süden vereint.“

Boschet­ti ist über­zeugt, dass auf euro­päi­scher Ebe­ne Lösun­gen für all die­se sub­ur­ba­nen Ter­ri­to­ri­en ange­dacht wer­den müs­sen: „Ein steu­er­ent­las­ten­des Sys­tem für Men­schen, die im sub­ur­ba­nen Raum arbei­ten, könn­te erwir­ken, dass die­se länd­li­che Kul­tur erhal­ten bleibt.“

 Ange­spro­chen auf Stadt­pla­nung, Archi­tek­tur und deren Ver­bin­dung zur Kunst erklärt Andrea Boschet­ti: „Für mich sind das alles sehr inter­dis­zi­pli­nä­re Fach­ge­bie­te. Wenn ich mit einem Stadt­ent­wick­lungs­pro­jekt begin­ne, dann hole ich mir Exper­ten aus ver­schie­dens­ten Berei­chen eben auch Künst­ler an einen Tisch, um deren Sicht­wei­sen ein­zu­ho­len und ein­zu­bin­den.“ Die allei­ni­ge Sicht­wei­se der Archi­tek­ten und Inge­nieu­re sind nicht aus­rei­chend, um eine Stadt unter huma­nis­ti­schen Gesichts­punk­ten zu pla­nen. „Heut­zu­ta­ge soll­ten wir danach stre­ben eine Stadt als gro­ßes Muse­um unter frei­em Him­mel zu sehen. Immer wie­der soll­ten wir über Räu­me stol­pern in denen wir intui­tiv wahr­neh­men, dass sich das ein Künst­ler erdacht hat.“ Hier reflek­tiert Boschet­ti auch oft über his­to­ri­sche Städ­te, die eben nicht tech­no­lo­gisch waren, son­dern auf Basis des Kol­lek­tivs erdacht wur­den. „Zuge­spitzt aus­ge­drückt, emp­fin­den wir Städ­te dann als har­mo­nisch, wenn die Lee­re der eigent­li­che Prot­ago­nist zwi­schen den Bau­ten ist.“ Aus die­ser Über­le­gung her­aus hat Andrea Boschet­ti gemein­sam mit dem Künst­ler Gian­pie­tro Carles­so eine Skulp­tur erschaf­fen, die den Titel „Equ­li­brio dina­mi­co del­la cit­ta in dive­ni­re“ (über­setzt: “Dyna­mi­sches Gleich­ge­wicht der Stadt in Bear­bei­tung“) trägt. Sie wur­de 2008 auf der Archi­tek­tur Bien­na­le in Vene­dig aus­ge­stellt. Die Skulp­tur abs­tra­hiert den Stadt­plan von Mai­land basie­rend auf der Lee­re, also dem Raum zwi­schen dem Raum. Mai­land ist als sol­ches natür­lich nicht mehr erkennbar.

Es ist eine Anspie­lung dar­auf, dass die Frei­flä­che aus­schlag­ge­bend ist für die Lebens­qua­li­tät in einer Stadt. Boschet­ti bringt es auf den Punkt: “Für mich gibt es kei­ne Archi­tek­tur ohne Kunst und kei­ne Kunst ohne Archi­tek­tur. Die Archi­tek­tur ist zudem eine Facet­te, die der Kunst Raum bie­tet.“ Als gelun­ge­nes Bei­spiel der gegen­sei­ti­gen Befruch­tung nennt Boschet­ti die Fon­da­zio­ne Pra­da in Mai­land. Andrea Boschet­ti sucht in sei­ner Archi­tek­tur immer nach dem Sinn. Er zielt dar­auf ab, dass sei­ne Bau­wer­ke eine Geschich­te erzäh­len. Das, so meint er, ver­ste­hen die Men­schen nicht immer, son­dern stel­len die Spra­che in den Vor­der­grund und ver­ges­sen dabei, dass die Spra­che nur die Abs­trak­ti­on des Inhalts ist und eben nicht der Inhalt selbst. Es ist genau die­ser Inhalt, der Andrea Boschet­ti von sei­nen Kol­le­gen unterscheidet.

Am Ende die­ses inspi­rie­ren­den Gesprächs in den „hei­li­gen Hal­len“ der Tri­en­na­le gibt er uns noch eine Bot­schaft mit auf den Weg: „Archi­tek­tur ver­fügt über die Kapa­zi­tät gro­ße Ver­än­de­run­gen maß­geb­lich zu beeinflussen.“ 

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