Alejandro Cesarco

In den letz­ten zwei Jahr­zehn­ten hat sich Ale­jan­dro Ces­ar­co (Mon­te­vi­deo, Uru­gu­ay, 1975) der Kunst gewid­met, Bücher ver­öf­fent­licht und Aus­stel­lun­gen kura­tiert. Unter Ver­wen­dung von Film, Foto­gra­fie und Text unter­sucht sei­ne Kunst die Wir­kungs­wei­se von Bedeu­tung und wie der Aus­druck die­ser Wir­kungs­wei­se in die Prak­ti­ken des Schrei­bens und Lesens, Über­set­zens und Fehl­in­ter­pre­tie­rens, Wie­der­ho­lens und Erin­nerns ein­ge­bet­tet ist. Die for­ma­len Stra­te­gien von Ces­ar­co (das Iso­lie­ren einer Fuß­no­te aus ihrem Kon­text, die fort­lau­fen­de Zusam­men­stel­lung von Inde­xen für ein noch unge­schrie­be­nes Buch, des­sen Erzähl­struk­tur bei­spiels­wei­se auf Geheim­hal­tung beruht) zeich­nen sich oft durch Gefühls­re­gun­gen aus, in denen Affek­te mit Spra­che zusam­men­spie­len, um eine Rei­he von Meta­nar­ra­ti­ven im Dia­log mit der Geschich­te der Kon­zept­kunst zu pro­du­zie­ren. Neben sei­ner Stu­dio­pra­xis hat der Künst­ler meh­re­re Aus­stel­lun­gen kura­tiert und ist Direk­tor von Art Resour­ces Trans­fer (A.R.T.), einer gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­ti­on, die Bücher von Künst­lern ver­öf­fent­licht und kos­ten­lo­se Aus­ga­ben über Kunst an öffent­li­che Schu­len, Biblio­the­ken und Gefäng­nis­se verteilt.

Fas­zi­niert vom Kon­zep­tua­lis­mus als rei­ne Theo­rie, als eine Bewe­gung, bezie­hen sich vie­le for­ma­le Aspek­te sei­ner Arbeit auf ver­gan­ge­ne Wer­ke aus den 60er und 70er Jah­ren. In die­ser Hin­sicht spielt er mit den Mög­lich­kei­ten der Erin­ne­rung als Objekt und Instru­ment unse­rer Begier­den, indem er unter­schied­li­che Metho­den der Doku­men­ta­ti­on, Beschrei­bung und Erklä­rung des Zeit­ab­laufs und der For­men sei­ner Erin­ne­rung in Bezie­hung zuein­an­der setzt. Anläss­lich sei­ner drit­ten Ein­zel­aus­stel­lung mit dem Titel »The Ongo­ing Sto­ry« in der Gal­le­ria Raf­fa­el­la Cor­te­se in Mai­land (Ita­li­en), bis 09. Febru­ar 2023, spricht Ces­ar­co mit uns über sei­ne Arbeit und geht auf das Aus­stel­lungs­pro­jekt ein.

Ale­jan­dro Ces­ar­co, Inter­lude, 2017, 8mm-Film über­tra­gen auf digi­ta­les Video, Far­be, Ton, End­los­schlei­fe (2‑Mi­nu­ten-Zyklus)

Fran­ce­s­ca Inter­lenghi: Sie keh­ren fünf Jah­re nach Ihrer letz­ten Ein­zel­aus­stel­lung in der Gale­rie nach Ita­li­en zurück. Wie hat sich Ihre künst­le­ri­sche Pra­xis in die­ser Zeit ent­wi­ckelt? Auf wel­che The­men haben Sie sich in den letz­ten Jah­ren konzentriert?

ALEJANDRO CESARCO: Ja, es ist eini­ge Zeit ver­stri­chen, und was für eine selt­sa­me Zeit das war! Die Welt und ins­be­son­de­re die Kunst­welt schei­nen seit­dem dras­ti­sche Ver­än­de­run­gen durch­lau­fen zu haben. Man­che posi­tiv und ande­re nega­tiv. Ins­ge­samt scheint es jedoch die­se wun­der­ba­re Ver­schie­bung im all­ge­mei­nem kri­ti­schen Dis­put (MeToo, Black Lives Mat­ter usw.) gege­ben zu haben, aber ich fra­ge mich, wel­che positive/ sys­te­mi­sche Ver­än­de­rung tat­säch­lich statt­ge­fun­den hat? Die jüngs­ten Wah­len in Ita­li­en und die Tat­sa­che, dass welt­weit der Schritt zurück vom Neo­fa­schis­mus zum Neo­li­be­ra­lis­mus als Fort­schritt gefei­ert wird, ist ein typi­sches Bei­spiel dafür. Aber in Bezug auf Ihre kon­kre­te­re Fra­ge den­ke ich, dass ich an einer ziem­lich engen The­men­wahl arbei­te, wenn wir sie so nen­nen wol­len. Viel­leicht sind es tat­säch­lich eine Rei­he von Fra­gen, die ich im Lau­fe der Zeit zu for­mu­lie­ren ver­su­che. Die­se Fra­gen wer­den durch mei­ne Arbeit mit einer Viel­zahl von Medi­en, For­schungs­me­tho­den und Stra­te­gien unter­sucht und haben viel­leicht am offen­kun­digs­ten mit Ideen von Inde­xi­ka­li­tät, Iden­ti­tät, Nar­ra­ti­vi­tät, der Archi­vie­rung und dem Auf­bau und der Bewah­rung von Erin­ne­rung zu tun.

Wenn ich mir das Aus­stel­lungs­pro­jekt anschaue, sehe ich, dass Sie sich mit den Kern­fra­gen Ihrer eige­nen Poe­tik befas­sen. Erin­ne­rung ist eines der »Topoi« Ihrer For­schung und in der Aus­stel­lung unter­su­chen Sie sie anhand der Arbeit Inter­lude (2017). Die Form­bar­keit der Erin­ne­rung, die Tat­sa­che, dass sie kei­ne star­re Struk­tur hat und dass jede neue Geschich­te irgend­wie ihre Neu­for­mu­lie­rung ist, sind eini­ge der Aspek­te, die Sie hin­ter­fra­gen. Kön­nen Sie mir mehr dar­über erzählen?

Ich habe eine kur­ze, viel­leicht etwas all­ge­mei­ne oder abs­trak­te Ein­füh­rung in die Aus­stel­lung geschrie­ben: »Die Aus­stel­lung ist eine Aus­wahl neue­rer Arbei­ten, die die emo­tio­na­len Kon­tu­ren des Lebens in zuneh­mend pre­kä­ren Zei­ten erkun­den. Die Arbei­ten bie­ten einen affek­ti­ven Rah­men für gefühl­te Erfah­run­gen und krei­sen auf ver­schie­de­ne Wei­se um eine Iden­ti­tät, die in Bezie­hung zu jemand ande­rem auf­ge­baut ist.« Die ent­hal­te­nen, meist foto­gra­fi­schen Arbei­ten the­ma­ti­sie­ren den Schmerz der Ent­frem­dung, die Scham der Erin­ne­rung und die Panik des Ver­ges­sens; sie offen­ba­ren die Pre­ka­ri­tät des mensch­li­chen Lebens­raums und die Zer­brech­lich­keit der Inti­mi­tät. Es ist sehr wahr, dass ich immer wie­der um die Idee der Erin­ne­rung krei­se und mit den Mög­lich­kei­ten der Erin­ne­rung als Objekt und Instru­ment unse­rer Wün­sche lieb­äu­ge­le. Im Lau­fe der Jah­re habe ich ver­schie­de­ne Metho­den für die Doku­men­ta­ti­on, Beschrei­bung und Auf­zeich­nung des Ver­laufs der Zeit und die ver­schie­de­nen Arten und Wei­sen, die ver­wen­det wer­den, um sie abzu­ru­fen, betrach­tet und in Bezie­hung zuein­an­der gesetzt. Auf die­se Wei­se doku­men­tie­ren die Wer­ke eine Art Lie­bes­er­klä­rung an die Erin­ne­rung. Und natür­lich endet es mit einem gebro­che­nen Herzen!

Ein wei­te­res The­ma, auf das sich die Aus­stel­lung kon­zen­triert, ist das Begeh­ren, genau­er gesagt die Mög­lich­keit sei­ner zeit­li­chen Dau­er. Ich den­ke dabei ins­be­son­de­re an die Arbeit The Long Term (A Mea­su­re of Inti­ma­cy I – V), 2020. Hier geht es vor allem um zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hun­gen, einen wei­te­ren Eck­pfei­ler Ihrer For­schung. Könn­ten Sie etwas zu die­sem The­ma sagen?

Die­se spe­zi­el­le Werkse­rie fun­giert als Por­trät eines Paa­res. Die Sai­ten, ihre wech­seln­den Far­ben und Anord­nun­gen, beschrei­ben beson­de­re Momen­te ihrer Bezie­hung. Die Gesamt­ma­ße der Sai­ten bezie­hen sich auf die Gesamt­grö­ße die­ses Paa­res. Auf einer eher for­ma­len Ebe­ne tra­gen die­se Arbei­ten eine lan­ge Rei­he von Refe­ren­zen: von den Zäh­lern von Mar­cel Duch­amp oder Stan­ley Brouwn, zu den run­den Holz­bal­ken von André Cade­re bis hin zu Guy Mees oder der Sur­face/­Sup­port-Grup­pe. Sie bezie­hen sich aber auch auf mei­ne eige­ne Arbeit, in der ich Paa­re, ihre Bezie­hun­gen und die Gren­zen der Spra­che por­trä­tie­re. Und wie der Titel andeu­tet, besteht die Arbeit hart­nä­ckig dar­auf, die Nach­hal­tig­keit des Begeh­rens auf lan­ge Sicht zu hin­ter­fra­gen. In die­sem Fall durch alle­go­ri­sches Mes­sen oder Quan­ti­fi­zie­ren der Annehm­lich­kei­ten der Inti­mi­tät, ihrer Distanz.

The Long Term (A Mea­su­re of Inti­ma­cy I), 2020, Archiv­tin­ten­strahl­druck, 147 x 57 cm
The Long Term (A Mea­su­re of Inti­ma­cy II), 2020, Archiv­tin­ten­strahl­druck, 147 x 57 cm

Das Wort Maß kommt häu­fig in Ihren Titeln vor. Sie haben die vor­he­ri­ge Aus­stel­lung in der Gale­rie »The Mea­su­re of Memo­ry« beti­telt und jetzt spre­chen Sie über das Maß der Inti­mi­tät. In Ihren Arbei­ten fin­det immer ein wech­sel­sei­ti­ger Dia­log zwi­schen Ratio­na­lis­mus und Poe­sie statt, der im Ergeb­nis eine har­mo­ni­sche Balan­ce fin­det. Kön­nen Sie erklä­ren, wie Ihr krea­ti­ver Pro­zess die Gegen­sät­ze heilt? (rational/emotional – Inklusion/ Exklu­si­on – Stärke/Verletzlichkeit und so weiter…)

Ich den­ke, genau das ist es, ein Hin und Her zwi­schen schein­bar wider­sprüch­li­chen Ele­men­ten, Ener­gien, Modi usw. Aber viel­leicht wür­de ich es weni­ger dia­lek­tisch, binär betrach­ten. Für mich ist es nicht unbe­dingt entweder/oder, aber und, und, und …. Ich den­ke, mei­ne Pra­xis könn­te all­ge­mein als an For­men sinn­li­chen Wis­sens betei­ligt beschrie­ben wer­den, oder anders gesagt, sie unter­sucht, wie Bedeu­tung emp­fun­den wird.

Long Cas­ting (A Page on Reg­ret), 2019 — aus »a series of inde­xes for books I have not yet writ­ten and most likely never will« — ist wahr­schein­lich das Werk, das die kon­zep­tio­nel­le Sei­te Ihrer Arbeit am bes­ten her­vor­hebt, die mit Ihrer Refle­xi­on über Spra­che ver­bun­den ist. In unse­rem vor­he­ri­gen Inter­view haben Sie mir gesagt, dass Sie eine Vor­lie­be dafür haben, Geschich­ten um eine Lee­re her­um zu erschaf­fen, um etwas, das geleug­net wur­de, und daher um einen Zustand der Unsi­cher­heit, der es dem Betrach­ter­nicht erlaubt, das Werk voll­stän­dig zu ver­ste­hen. Ver­leug­nung, Lee­re und Bedau­ern, wel­che Rol­le spie­len sie in Ihrer Untersuchung?

Wie Sie erwäh­nen, stammt die­se Arbeit aus einer Rei­he von Indi­zes, an denen ich in den letz­ten zwan­zig Jah­ren gear­bei­tet habe. Bis­her habe ich sechs oder sie­ben pro­du­ziert, je nach­dem, wie man sie zählt — in dem Sin­ne, dass nicht alle von A‑Z gehen. Die Serie bil­det die Ent­wick­lung mei­ner Inter­es­sen, Les­ar­ten und Beschäf­ti­gun­gen ab und ist so zu einer Form des Selbst­por­träts gewor­den, das sich im Lau­fe der Zeit ent­fal­tet. Long Cas­ting (A Page on Reg­ret) ist inner­halb der Serie inso­fern beson­ders, als dass es ein bestimm­tes Wort/Konzept (Bedau­ern) in den Fokus rückt und, dass es einen Text gibt (mei­ne Dok­tor­ar­beit, »Under The Sign of Reg­ret«), an den es lose ange­lehnt ist. Der jewei­li­ge Text und das Kunst­werk sind Neben­pro­duk­te von Miss­ver­ständ­nis­sen, Fehl­ein­schät­zun­gen, schlech­ten Ent­schei­dun­gen usw. Und, um kurz auf eini­ge Ihrer vor­an­ge­hen­den Fra­gen zurück­zu­kom­men, Zeit und Erin­ne­rung neh­men eine beson­de­re Gestalt an, wenn sie durch die­se Lin­se betrach­tet wer­den. Was die unter­schied­li­chen Anre­de­for­men betrifft, da haben Sie Recht, sie haben oft etwas mit Geheim­hal­tung, Unklar­heit und Frag­men­tie­rung zu tun. Das hat viel­leicht damit zu tun, eine end­gül­ti­ge Ant­wort zu ver­mei­den und eher zu ver­su­chen, das Werk im Bereich von etwas ein­zu­ord­nen, das noch im Ent­ste­hen ist, einer Form, die sei­ne Mög­lich­kei­ten offen lässt. Was das Bedau­ern angeht, wage ich zu sagen, um Sian­ne Ngai zu zitie­ren: dass es bei die­sen »nutzlosen/unbedeutenden/hässlichen« Gefüh­len um Hand­lun­gen geht: dar­um, wie und war­um sie blo­ckiert wer­den und wie man Moti­ve für poli­ti­sches Han­deln aus­fin­dig macht, wenn kei­ne sicht­bar sind.

Ale­jan­dro Ces­ar­co, Down & Across I, 2020, Archiv­tin­ten­strahl­druck, 119 x 83 cm

Abschlie­ßend kann ich in Bezug auf die Arbeit Down & Across, 2020, nicht umhin, Sie zu fra­gen, wel­che Aus­wir­kun­gen die Pan­de­mie auf Sie als Künst­ler hat­te. Nach Ihrer Defi­ni­ti­on war es »eine Zeit, in der schein­bar die Bedeu­tung aus­ge­setzt war«, kön­nen Sie das erläutern?

Die­se Arbeit wur­de in den ers­ten Mona­ten des Lock­downs und Doku­men­tie­rens von Covid-19 aus­ge­führt, einer Zeit, in der die Bedeu­tung auf­ge­ho­ben war und durch Far­be und erhal­te­ne Anhalts­punk­te ersetzt wur­de – die Arbeit umfasst das Aus­ma­len von NYT­Kreuz­wort­rät­seln. Dies war eine Zeit, in der unse­re per­sön­li­che und kol­lek­ti­ve Erzäh­lung (wie­der­um auch unse­re Vor­stel­lung von Zeit) sehr schwer zu ver­ste­hen war. Und um auf den Anfang unse­res Gesprächs zurück­zu­kom­men: Ich den­ke, wir befin­den uns in einem all­mäh­li­chen Pro­zess der Ent­de­ckung, wel­che Art von Ver­än­de­rung (oder Bruch) die Pan­de­mie und ihre Fol­gen in unser Leben gebracht hat und wel­che Art von Ent­schei­dun­gen wir ange­sichts des­sen über unser Leben tref­fen wollen.

Der Arti­kel ist in der Print-Aus­ga­be 4.22 AFFINITY erschienen.

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ist Autorin, unabhängige Kuratorin und Performerin. Sie schreibt für verschiedene Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, kuratiert Kunstbücher, Ausstellungskataloge, Ausstellungen der Fotografie und der zeitgenössischen Kunst und verfasst Videokunstkritiken. Seit 2016 ist sie als Performerin tätig. Sie hat an mehreren Videoperformances teilgenommen und öffentliche Performances realisiert, an Kurzfilmen und Filmen mit experimentellem Charakter mitgewirkt, die auf internationalen Festivals präsentiert wurden.

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