Über die Grenzen von Feder und Pinsel hinaus
Die ALBERTINA in Wien ist Heimat zahlreicher weltberühmter Ikonen der Zeichnung, darunter der Feldhase, die Betenden Hände und Das große Rasenstück. Eine, um wertvolle internationale Leihgaben, ergänzte Ausstellung präsentierte im Herbst 2019 mit über 200 Exponaten Dürers zeichnerische, druckgrafische und malerische Werke.
Mit nahezu 140 Arbeiten besitzt die Albertina den weltweit bedeutendsten Bestand an Zeichnungen Albrecht Dürers. Die Sammlungsgeschichte seines OEuvres ist von besonderer Bedeutung: Seine Provenienz lässt sich lückenlos bis ins Jahr 1528 zurückverfolgen und bildet damit ein seit fast 500 Jahren geschlossen erhaltenes Konvolut aus Dürers Werkstatt. Die Sammlung bietet daher wie keine andere den idealen Ausgangspunkt, um sich auch seiner persönlichen, vom Gedankengut des frühen Humanismus geprägten Kunstauffassung zu nähern.
WAS KRIECHT DENN DA?
Das große Rasenstück ist zusammen mit dem Feldhasen und den Betenden Händen nicht nur Albrecht Dürers berühmteste Naturstudie, sondern überhaupt ein Meisterwerk und ein wahres Wunder der Kunst auf Papier. Dürer lädt uns ein, aus der Perspektive eines kriechenden Insekts in das Wiesenstück einzudringen. So genau alles in der Natur beobachtet wurde, so präzise erscheint es wieder auf dem Papier: vom schnell und wie beiläufig mit breitem Pinsel hingeworfenen moorigen Boden bis zu den Spitzen und Rispen der Grashalme, die sorgfältig mit feinstem Werkzeug gouachiert wurden. Der freigeräumte Vordergrund ermöglicht es, einzelne Pflanzen wie Wegerich und Löwenzahn in ihrer Gesamtheit darzustellen, von der Wurzel bis zur Spitze oder Blüte. Doch handelt es sich nicht um ein bloßes Abbild der Natur, sondern um einen lebendigen Mikrokosmos – und in der Schaffung eines solchen liegt Dürers wahre Meisterschaft. Das große Rasenstück ist zugleich das eindrucksvollste Zeugnis eines späteren Postulats des Künstlers (1528 in seinen Vier Büchern von menschlicher Proportion), dass nämlich nur durch die Nachahmung der Natur die höchste Stufe der Kunst zu erreichen sei: „Dann warhafftig steckt die Kunst inn der Natur. Wer sie herauß kann reissen, der hat sie.“
„Was malt er nicht alles“, schrieb Erasmus von Rotterdam unter dem Eindruck des Todes des Nürnberger Meisters in seinem berühmten Zwiegespräch zwischen Löwe und Bär, das 1528 in Basel in Druck ging, „auch was man nicht malen kann, Feuer, Strahlen, Donner, Wetterleuchten, Blitze oder Nebelwände, wie man sagt, die Sinne, alle Gefühle, endlich die ganze Seele des Menschen, die sie sich aus der Bildung des Körpers offenbart, sogar fast die Stimme selbst.“ Wenn wir nun ein zweites Mal in Dürers Das große Rasenstück eintauchen: Können wir nicht den Duft des Grases oder der frischen, feuchten Erde riechen? Können wir nicht eine sanfte Brise durch die Grashalme streichen hören oder Käfer und Insekten erspähen, die von uns gestört werden und sich verstecken wollen? Und können wir nicht die raue Oberfläche des Grases, das glatte Blatt des Wegerichs oder die ledrige Haut des verblühenden Löwenzahns spüren?
Betrachten wir dann ein Blatt wie Dürers Betende Hände: Kann dieses Wunder an analytischer Beobachtung und präzisester Wiedergabe für den einzigen Zweck gemacht worden sein, als eine Vorstudie für ein kaum weiter beachtenswertes Detail zu dienen? Welchen, gängiger Werkstattpraxis geschuldeten Sinn – nämlich als Ausgangsmaterial für Grafik oder Malerei –, fragen wir weiter, sollte ein Blatt wie der berühmte Feldhase letztlich entfalten? Zwar war Dürer nicht der erste Künstler nördlich der Alpen, der sich einen solchen zeichnerischen Werkstattfundus anlegte, doch gehen seine Arbeiten in ihrer technischen, kompositorischen und künstlerischen Vollkommenheit, welche oft auch das so sorgfältig gesetzte Signum manifestiert, weit über die Tradition der Musterblätter des 15. Jahrhunderts hinaus.
DAS LOB DER LINIE
Welchen Stellenwert hat überhaupt die Linie in Dürers Werk? Zur Annäherung an dieses Grundproblem lohnt sich der Blick auf zeitgenössische Autoren, die Dürer ja bekanntlich vor allem als Meister des Stifts und des Stichels, aber weniger als den des Pinsels feierten. So sind es in Erasmus’ bereits zitierter Lobrede auf Dürer schwarze Linien und nicht etwa Farben, die Albrecht Dürers Künstlerruhm begründeten: „Was drückte er nicht alles im Einfarbigen, das heißt mit schwarzen Strichen aus? Schatten, Licht, Glanz, Vorragendes und Einspringendes …Und dies stellt er mit den glücklichsten Strichen und eben diesen schwarzen so vor Augen, dass du dem Werk Unrecht tun würdest, wenn Du Farbe auftrügest.“
Der Gedanke, dass die in Dürers gezeichneten Werken sich beweisende Virtuosität in der mimetischen Wiedergabe des Gesehenen auch die geistige Substanz des Dargestellten zu erfassen im Stande sei, zieht sich wie ein roter Faden durch die dem Künstler gewidmete Panegyrik. So rühmt Joachim Camerarius in seiner Vorrede zur lateinischen Übersetzung der Proportionslehre, die vier Jahre nach des Künstlers Tod vorlag, wie Dürers feste und sichere Hand ohne irgendwelche Hilfsmittel zu zeichnen fähig war und des Meisters geistige Entwürfe mit der Rohrfeder oder dem Federkiel aufs Papier warf, „als ob sie selbst sprächen“ – kurzum: wie der begnadete Künstler die mechanische Fertigkeit der Hand, die Beobachtungsgabe des Auges und schließlich die Imaginationskraft des Intellekts in seinen gezeichneten Werken zu harmonisieren verstand: „Was soll ich von seiner festen und sicheren Hand sagen? Man könnte schwören, es wäre mit der Richtschnur, dem Maßstab oder dem Zirkel aufgezeichnet, was er ohne irgendwelches Hilfsmittel mit dem Pinsel, ja oft mit der Rohrfeder oder dem Federkiel zur größten Verwunderung der Zuschauer gezogen hat. Was soll ich erwähnen, mit welcher Übereinstimmung zwischen Aufzeichnung und geistigem Entwurf er oft mit der Rohrfeder oder dem Federkiel die Formen irgendwelcher Dinge sofort aufs Papier warf oder sie so hinsetzte, als ob sie selbst sprächen?“
Selbst Kaiser Maximilian I. empfahl 1512 dem Rat der Stadt Nürnberg Albrecht Dürer mit Nachdruck als Zeichner, nämlich von „Visirungen“, und auch der in Maximilians Diensten stehende Augsburger Humanist Konrad Peutinger sah in Dürer vor allem den „des Zeichenstifts Kundigen“, der es vermochte, ein ganzes Leben wie in einem Spiegel vorzuhalten: „Ihr habt kürzlich gesagt, hoch geschätzter Herr, dass des Cornelius Gallus ›Vom Alter‹ ein Spiegel Ihres eigenen Selbst sei: darin sei Ihr ganzes Leben so präsent, dass es selbst Dürer als des Zeichenstifts Kundiger es nicht besser hätte darstellen können.“
ORDNUNG MUSS SEIN!
Dürer war auch eine Art erster Sammler und Kurator seines eigenen Werks: Die Werkstatt war zugleich Sammlungsort. Seine Sorge um diesen kostbaren Bestand zeigen etwa Beschriftungen, die auch beweisen, dass Dürer hier immer wieder sichtete, klassifizierte, ordnete und sicherlich auch bereinigte. Es scheint sogar, dass Dürer ein ausgeklügeltes Ordnungssystem einführte, sodass frühe Sammler auf von ihm selbst strukturierte Werkkomplexe zugreifen konnten. So enthielt die 1588 an Rudolf II. verkaufte Sammlung Imhoff, in der mehrere Nachlassteile vereinigt waren, einen Großteil der Familienporträts, die Tier- und Pflanzenstudien, Hand- und Kopfstudien auf farbigen Papieren und früheste Werke. Mit der Sammlung Granvelle kam der Kaiser im Folgejahr in den Besitz der meisten Landschaftsaquarelle, der großen Kohle- und Kreidebildnisse und anscheinend des allergrößten Teils der 1520/21 in den Niederlanden entstandenen Zeichnungen.
REISEN BILDET
In seinen Manuskripten formulierte Dürer die Idee, dass es besonders nützlich sei, „von den beruembten guten Meystern“ nicht nur Bilder „abzumachen“ (zu kopieren, nachzuahmen), sondern „das man auch die selbigen [die berühmten Meister] darvon hoer reden“. Dass er die Nähe zu Gleichgesinnten stets suchte und auch pflegte, zeigen seine Reisen mehr als eindrucksvoll: So kam er nach seiner Lehrzeit zuerst nach Colmar, wo er „hochlich begert“ war, Martin Schongauer zu sehen – der allerdings inzwischen verstorben war –; so ist in den Briefen, die er aus Venedig an Willibald Pirckheimer schrieb, vom „Sambelling“ die Rede, wobei sich der in der fremden Sprache noch Unbeholfene des hohen Ansehens bei Giovanni Bellini rühmte. Und so erfahren wir aus dem Diarium der Reise in die Niederlande, wie der nun mittlerweile selbst zum Star arrivierte Meister den um seine Gunst buhlenden Kollegen seine Freundschaft gnädig gewährte.
Viele der auf Dürers ausgedehnten Reisen entstandenen Studien gehören zu den Höhepunkten seines zeichnerischen Werks, etwa die 1495 während der ersten italienischen Reise aquarellierten Landschaftsund Stadtansichten. Am Anfang stehen drei detailliert ausgearbeitete Veduten, die Innsbruck am Ausgang des Mittelalters dokumentieren; und auch von Trient, offenbar Dürers nächster Hauptetappe, existieren drei Aquarelle. Später widmete sich Dürer auch Darstellungen aus Nürnberg und seiner Umgebung. Seinen Aufenthalt in den Niederlanden Anfang der 1520er Jahre nutze der als Berühmtheit gefeierte Künstler für Eigenwerbung, Networking und den Aufbau geschäftlicher Kontakte. Daneben fand er auch die Zeit zu arbeiten. Häufig fertigte er Porträts in Feder, Kohle und Öl, die er als Geschenk oder gegen Bezahlung weitergab.
DIE AUTONOME ZEICHNUNG
Soweit wir wissen, war aber so gut wie keines der Blätter Dürers für die Begehrlichkeiten von Sammlern konzipiert, sie dienten nahezu ausnahmslos den Bedürfnissen der eigenen Werkstatt. Dass auch Das große Rasenstück, die Betenden Hände und der Feldhase bis zu Dürers Tod Atelierbestand waren, ist durch ihre fast lückenlose Provenienz erwiesen. Doch gehen sie weit über die an ein Musterblatt oder einen Vorentwurf gestellten Anforderungen hinaus. Die Forschung verfolgt nun schon seit einiger Zeit den methodischen Ansatz, einzelne Komplexe von Dürers Zeichnungen aus der ihnen im traditionellen Werkstattgebrauch zugewiesenen Funktion als vorbereitendes Arbeitsmaterial zu lösen. Keine Frage: Sehr vieles erfüllt durchaus diesen pragmatischen Zweck. Doch sollte man das zeichnerische OEuvre weniger als eine Malerei und Druckgrafik dienende, sondern als ebenbürtige künstlerische Leistung diskutieren.
VIRTUOSER SCHAFFENSPROZESS
Viele Blätter Dürers beanspruchen schon formal, etwa durch ein sorgsam platziertes Monogramm, eine hervorstechend angebrachte Datierung oder (in seltenen Fällen) bewusst gezogene Rahmenlinien den Status als eigenständige Bilder. Durch unterschiedliche Ausarbeitungsgrade innerhalb eines Blattes, von mikroskopischer Detailpräzision bis zu unbefangenem Nonfinitum – beste Beispiele bieten seine Landschafts- und Steinbruchblätter –, scheint Dürer das „Zeichnen“ selbst als einen prozesshaften, intellektuellen Vorgang thematisieren zu wollen. Variierende Darstellungen ein und desselben oder auch ähnlicher Motive, wie es Dürer etwa mit den Rindermäulern demonstrierte, definieren Zeichnen auch als einen analytischen, forschenden Vorgang. Dürers „Exempla“ sind somit ideales und didaktisch perfektes Anschauungsmaterial zur Demonstration des Schaffensprozesses und der Kunstfertigkeit. Sie dokumentieren seine technische Virtuosität und führen überhaupt an die Grenze des mit Feder und Pinsel Machbaren. Sie demonstrieren die über das Studium der Natur gefundene perfekte künstlerische Form. Mit der Sammlung des eigenen zeichnerischen OEuvres hatte Dürer einen Schatz zur Hand, der jedem Besucher der Werkstatt sein gottgegebenes Talent auf das Trefflichste vor Augen führen konnte: einen vollkommenen Beweis seiner Kunst.