Die Heilige Inspiration
Sie möge über mich kommen, denn schon wieder droht eine neue Ausgabe und mit ihr der Abgabetermin für eine Predigt zur Kunst. Dabei fällt mir sonst immer was ein, schließlich bin ich Künstlerin und als solche quasi die personifizierte Inspiration. Im Atelier hab ich einen dicken, fetten Ordner mit der Überschrift Ideen, daraus könnte ich eine Schaffenskriste von der Dauer des Mittelalters überbrücken aber nicht mal da drin findet sich ein Thema für die Ausgabe 1.17. Inspiration allein reicht nämlicht nicht; sie muss auch zweckmässig sein. Das wiederum widerspricht der Zwecklosigkeit der Kunst an sich; LÁRT POUR LÁRT widerspricht der Zwecklosigkeit der Kunst an sich, heisst übersetzt leider nicht die Kunst für die Kolumne.
Mit der Inspiration ist das sowieso so eine Sache. Die kommt und geht, wann sie will und meist im unpassendsten Moment. Entweder hat man gerade nichts zu schreiben oder sitzt in katatoner Starre vor dem Bildschirm und wartet auf längeres Haar. Manchmal, wenn sie denn kurz da war, die heilige Inspiration, kann man sich merken wie sie aussieht und anschließend ein Phantombild in Form einer Skizze anfertigen. Und in ganz glücklichen Augenblicken bleibt sie und hängt einige Tage im Atelier rum. Dann kann man sich mit ihr überaus kunstvoll amüsieren, sie ins rechte Licht setzen, sie nach eigenem Gusto und Stil verkleiden und frisieren, sie fett füttern oder durch den Wolf drehen, Orgien mit ihr feiern oder sie zum
Äußersten treiben.
In Allem steckt das Potential zur Kunst
Man wundert sich, was sie sich alles gefallen lässt aber allein lassen darf man sie nie. Kurz was essen gehen oder die e‑mails checken ist nicht drin. Dann ist sie beleidigt und verschwindet. Wenn man ins Atelier zurück kommt, kann man lange suchen. Da steht man dann wie ein armer Tropf vor der Staffelei, dem Text oder der Skulptur und fühlt sich verlassen.
Die Schlampe ist weg und nicht mal beten hilft. „Bitte, komm zurück“ fleht man und versucht ein paar zaghafte Pinselstriche oder Kommas. Natürlich alle an der falschen Stelle. Ist sie lange genug geblieben, zum Beispiel weil man sich ihr mit Haut und Haar hingegeben hat, können wunderbare Arbeiten entstehen. Manchmal entsteht weltbewegende Kunst, weil sie einen einzigen, kurzen Atelierbesuch gemacht hat und manche Künstler verlässt sie ein ganzes Leben lang nicht. Wie auch immer: Heute hängt sie wahrscheinlich bei ‚ner anderen Künstlerin rum oder nimmt ein Vollbad in Magenta. Bei mir ist sie jedenfalls nicht.