Um Kunst zu empfinden, braucht es Empfindsamkeit. Um die Innovation junger Kunst zuzulassen, muss man offen sein. Um die Freiheit der Kunst nicht nur zu ertragen, muss man einen freien Geist haben. Um Künstler:in zu sein, muss man über Transzendenz, Bewusstsein und Sensibilität verfügen. Das und viel mehr sind Voraussetzungen dafür, Lust am breiten Spektrum künstlerischen Ausdrucks zu finden. Wenn das vorhanden ist, bildet sich die Affinität zur Kunst ganz von selbst.
Und was ist mit den anderen? Tja, die haben Pech gehabt, würde ich sagen. Die müssen ihr ganzes Leben mit dem Surrogat von Kunst fristen, bewegen sich rhythmisch zu Ballermann-Lyrik, lesen die Boulevard-Presse, gucken im TV Z‑Promis beim Zehennägelschneiden zu und erfreuen sich an Deko-Drucken, die zum Sofa passen. Ein Glück nur, dass sie dabei keinen Leidensdruck verspüren, daher verdienen und brauchen sie kein Mitleid. Immerhin: Sie haben auch nichts gegen Kunst und können daher in unserer Aufmerksamkeit vernachlässigt werden. Gefährlich ist der Rest. Die, die das Gegenteil von KUNST-Affinität repräsentieren: Die mit der KUNST-Aversion. Die leichten Fälle unter ihnen tragen ihre Abneigung zur KUNST trotzig vor sich her und beweisen damit eigentlich, dass sie nicht zu den ernsthaften Gegnern der KUNST zu zählen sind. In Wahrheit sind sie hinsichtlich künstlerischer und kultureller Themen oft nur überfordert, faul oder dumpf. Ihre oft brüske Distanzierung von der Kunst ist nichts anderes als eine Form der Abwehr, also sei‘s drum.
Echte Gegner der KUNST gehen ganz anders vor. Ähnlich wie ein Vergewaltiger, der behauptet, er liebe die Frauen so sehr, dass er – überwältigt von ihrer Schönheit – sie einfach besitzen MUSS, bringen auch KUNSThasser das Objekt ihrer Begierde in ihre Gewalt. Dort wird dieses dann in einem verschnörkelten Goldrahmen und ihrem neuen Peiniger im Vordergrund fotografisch in Szene gesetzt wie ein erlegter Löwe.
Wenn Bilder schreien könnten, wäre es in manchen Ritchy-Residenzen, V.I.P‑Villen oder Prunk-Palästen ohne Ohrenstöpsel nicht auszuhalten. Allerdings gibt es auch Bilder, die sich gern und freiwillig prostituieren. Sie wurden extra zu diesem Zweck von ihren Produzent:innen erschaffen und sind genau wie wahre Kunst ziemlich teuer – obwohl sie billig aussehen. Wie echte Nutten stechen sie durch bunte Farben, pralle Formen und anspruchslose Geisteshaltung hervor und machen es den Freier:innen in jeder Hinsicht einfach. (Sorry liebe Nutten, das war jetzt ein Klischee, ich weiß, es gibt auch ganz andere unter Euch!) Einen Unterschied gibt es aber doch: Während man sich mit Prostituierten eher nicht in Gesellschaft blicken lässt, zieht es den KUNST-Aversionisten mit seiner Kunst in die Öffentlichkeit. Das liegt daran, dass er keine Scham kennt und ihm Reflexionsfähigkeit abgeht. Ein klassisches Beispiel ist der gemeine Diktator. So verschieden sie alle waren und sind – Hitler, Napoleon, Ceausescu, Saddam Hussein, Gadafi, Kim Jong-un, Putin, Mao, Stalin, Mussolini und wie sie alle heißen: Sie umgaben und umgeben sich mit einer Corona von Kunst. Das schmückt! Auffällig ist dabei, dass Stil, Geschmack oder Kenntnis bei der Wahl der Kunst keine Rolle spielen. Wichtig sind Preis, Einzigartigkeit und leichte Lesbarkeit. Letzteres schließt alles Experimentelle, Avantgardistische natürlich aus. Das ist dann entartete Kunst oder gar keine. Richtige Kunst ist Realismus, am besten mit aufgesetzter Symbolik und viiiiel Pathos. Gern darf es monumental sein und den Machthaber selbst zum Motiv haben.
Der Diktator als Halbgott, auf weißem Pferd reitend, gesalbt und angehimmelt von elfengleichen Jungfrauen – das lässt die Brust schwellen. Mindestens. Dieses unheilige Gebräu aus Geschmacklosigkeit, Dummheit, Monstrosität und Arroganz soll dazu dienen, dem Tyrannen den Anschein von Menschlichkeit zu verleihen. Er umgibt sich mit Kunst – das muss doch ein kultivierter Feingeist sein! Gesteigert wird das nur noch durch die Anmaßung, sich selbst als Künstler zu definieren. Hitler immerhin hat sein Scheitern als Landschaftsmaler akzeptiert und ist lieber Diktator geworden, aber Muamar al-Gadafi schrieb Gedichte, Mao, Stalin und Mussolini bezeichneten sich als Autoren und Kaiser Nero wähnte sich als Schauspieler und Sänger. So viel zu …böse Menschen haben keine Lieder… Eben doch! Sie haben Kriegsgeheul, Kanonenschläge, Marschmusik und Schlager fürs Volk. Und sie haben Architektur von Albert Speer, Fotos von Leni Riefenstahl, Kinderbücher von Karadzic und »Eisblumen auf bereiftem Fenster« von Wladimir Putin. Ein Hohn für alle Künstler:innen, die ihr Talent, ihren Mut und ihr Leben für die Kunst geben, dass das Machwerk für umgerechnet 860.000 Euro versteigert wurde. Der KUNSTaffine Mensch leidet Schmerzen beim Anblick vergewaltigter Kunst oder kreativer Absonderungen selbstverliebter Despoten.
Was also tun? Despoten ist das Malen verboten, möchte man brüllen und den Verkauf wahrer Kunst an Diktaturen (des schlechten Geschmacks) unterbinden. Das Problem ist nur, dass wir alle überzeugte Demokrat:innen sind und hinnehmen müssen, dass das Volk solche Kunstverächter meistens selbst gewählt hat. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg – es sei denn, Jonathan Meese wird Erzkaiser. Hahahaha! – Echt jetzt?
Ja, echt. Zumindest die Idee einer Diktatur der Kunst hat was Reizvolles. Außerdem ist sie so allumfassend wie die Kunst selbst und schließt niemanden aus. Selbst der Diktator kann sich in einer absolutistischen Herrschaft des (KUNST-)Geistes zuhause fühlen. Die Freiheit der Kunst ermöglicht ihm, wie allen anderen Menschen, den totalen Selbstausdruck und garantiert, dass dabei nicht Angst und Schrecken, sondern Inspiration und Expression verbreitet wird. Denn: Wohl die allermeisten Menschen würden es ablehnen, in Form einer Performance in einen Krieg zu ziehen und alles umzubringen, was denken kann. Nur sehr wenige Menschen würden für die Kunst töten.
Natürlich würde eine Weltherrschaft der Kunst eine enorme geistige Anstrengung der Menschheit voraussetzen, was sie angesichts des Zustandes des Planeten utopisch erscheinen lässt. Andererseits soll man die Hoffnung nicht aufgeben. Klar ist, dass die Demokratie gescheitert ist. Wer »das Volk« wählen lässt, entscheidet sich für Gier und Gewalt. Das führt zu apokalyptischen Krisen und da zwingt sich mir ein beliebter Kalenderspruch auf: Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Wenn wir schon nicht so weitermachen können, dann wäre eine Diktatur der Kunst eine echte Alternative. Alles Handeln würde in dem Bewusstsein, KUNST zu schaffen, geschehen und wäre somit mit Denken, Fühlen, Reflektieren und Sinn angefüllt. KUNSTvoll zu leben, also das Sein zu gestalten, verändert nicht nur das Individuum, sondern alles. Die von Beuys beschriebene »Soziale Plastik« würde eine andere Form annehmen und ihren Ausdruck verändern. Ihr menschliches Antlitz würde seine Monstrosität verlieren.
Der Artikel ist in der Print-Ausgabe 4.22 AFFINITY erschienen.