Anja Es: WOLLT IHR DIE TOTALE KUNST?

Um Kunst zu emp­fin­den, braucht es Emp­find­sam­keit. Um die Inno­va­ti­on jun­ger Kunst zuzu­las­sen, muss man offen sein. Um die Frei­heit der Kunst nicht nur zu ertra­gen, muss man einen frei­en Geist haben. Um Künstler:in zu sein, muss man über Tran­szen­denz, Bewusst­sein und Sen­si­bi­li­tät ver­fü­gen. Das und viel mehr sind Vor­aus­set­zun­gen dafür, Lust am brei­ten Spek­trum künst­le­ri­schen Aus­drucks zu fin­den. Wenn das vor­han­den ist, bil­det sich die Affi­ni­tät zur Kunst ganz von selbst.

Und was ist mit den ande­ren? Tja, die haben Pech gehabt, wür­de ich sagen. Die müs­sen ihr gan­zes Leben mit dem Sur­ro­gat von Kunst fris­ten, bewe­gen sich rhyth­misch zu Bal­ler­mann-Lyrik, lesen die Bou­le­vard-Pres­se, gucken im TV Z‑Promis beim Zehen­nä­gel­schnei­den zu und erfreu­en sich an Deko-Dru­cken, die zum Sofa pas­sen. Ein Glück nur, dass sie dabei kei­nen Lei­dens­druck ver­spü­ren, daher ver­die­nen und brau­chen sie kein Mit­leid. Immer­hin: Sie haben auch nichts gegen Kunst und kön­nen daher in unse­rer Auf­merk­sam­keit ver­nach­läs­sigt wer­den. Gefähr­lich ist der Rest. Die, die das Gegen­teil von KUNST-Affi­ni­tät reprä­sen­tie­ren: Die mit der KUNST-Aver­si­on. Die leich­ten Fäl­le unter ihnen tra­gen ihre Abnei­gung zur KUNST trot­zig vor sich her und bewei­sen damit eigent­lich, dass sie nicht zu den ernst­haf­ten Geg­nern der KUNST zu zäh­len sind. In Wahr­heit sind sie hin­sicht­lich künst­le­ri­scher und kul­tu­rel­ler The­men oft nur über­for­dert, faul oder dumpf. Ihre oft brüs­ke Distan­zie­rung von der Kunst ist nichts ande­res als eine Form der Abwehr, also sei‘s drum.

Ech­te Geg­ner der KUNST gehen ganz anders vor. Ähn­lich wie ein Ver­ge­wal­ti­ger, der behaup­tet, er lie­be die Frau­en so sehr, dass er – über­wäl­tigt von ihrer Schön­heit – sie ein­fach besit­zen MUSS, brin­gen auch KUNST­has­ser das Objekt ihrer Begier­de in ihre Gewalt. Dort wird die­ses dann in einem ver­schnör­kel­ten Gold­rah­men und ihrem neu­en Pei­ni­ger im Vor­der­grund foto­gra­fisch in Sze­ne gesetzt wie ein erleg­ter Löwe.

Wenn Bil­der schrei­en könn­ten, wäre es in man­chen Rit­chy-Resi­den­zen, V.I.P‑Villen oder Prunk-Paläs­ten ohne Ohren­stöp­sel nicht aus­zu­hal­ten. Aller­dings gibt es auch Bil­der, die sich gern und frei­wil­lig pro­sti­tu­ie­ren. Sie wur­den extra zu die­sem Zweck von ihren Produzent:innen erschaf­fen und sind genau wie wah­re Kunst ziem­lich teu­er – obwohl sie bil­lig aus­se­hen. Wie ech­te Nut­ten ste­chen sie durch bun­te Far­ben, pral­le For­men und anspruchs­lo­se Geis­tes­hal­tung her­vor und machen es den Freier:innen in jeder Hin­sicht ein­fach. (Sor­ry lie­be Nut­ten, das war jetzt ein Kli­schee, ich weiß, es gibt auch ganz ande­re unter Euch!) Einen Unter­schied gibt es aber doch: Wäh­rend man sich mit Pro­sti­tu­ier­ten eher nicht in Gesell­schaft bli­cken lässt, zieht es den KUNST-Aver­sio­nis­ten mit sei­ner Kunst in die Öffent­lich­keit. Das liegt dar­an, dass er kei­ne Scham kennt und ihm Refle­xi­ons­fä­hig­keit abgeht. Ein klas­si­sches Bei­spiel ist der gemei­ne Dik­ta­tor. So ver­schie­den sie alle waren und sind – Hit­ler, Napo­le­on, Ceau­ses­cu, Sad­dam Hus­sein, Gada­fi, Kim Jong-un, Putin, Mao, Sta­lin, Mus­so­li­ni und wie sie alle hei­ßen: Sie umga­ben und umge­ben sich mit einer Coro­na von Kunst. Das schmückt! Auf­fäl­lig ist dabei, dass Stil, Geschmack oder Kennt­nis bei der Wahl der Kunst kei­ne Rol­le spie­len. Wich­tig sind Preis, Ein­zig­ar­tig­keit und leich­te Les­bar­keit. Letz­te­res schließt alles Expe­ri­men­tel­le, Avant­gar­dis­ti­sche natür­lich aus. Das ist dann ent­ar­te­te Kunst oder gar kei­ne. Rich­ti­ge Kunst ist Rea­lis­mus, am bes­ten mit auf­ge­setz­ter Sym­bo­lik und viii­iel Pathos. Gern darf es monu­men­tal sein und den Macht­ha­ber selbst zum Motiv haben.

Anja Es: Kunst­ge­nuss, Öl auf Lein­wand, 40 x 50 cm

Der Dik­ta­tor als Halb­gott, auf wei­ßem Pferd rei­tend, gesalbt und ange­him­melt von elfen­glei­chen Jung­frau­en – das lässt die Brust schwel­len. Min­des­tens. Die­ses unhei­li­ge Gebräu aus Geschmack­lo­sig­keit, Dumm­heit, Mons­tro­si­tät und Arro­ganz soll dazu die­nen, dem Tyran­nen den Anschein von Mensch­lich­keit zu ver­lei­hen. Er umgibt sich mit Kunst – das muss doch ein kul­ti­vier­ter Fein­geist sein! Gestei­gert wird das nur noch durch die Anma­ßung, sich selbst als Künst­ler zu defi­nie­ren. Hit­ler immer­hin hat sein Schei­tern als Land­schafts­ma­ler akzep­tiert und ist lie­ber Dik­ta­tor gewor­den, aber Mua­mar al-Gada­fi schrieb Gedich­te, Mao, Sta­lin und Mus­so­li­ni bezeich­ne­ten sich als Autoren und Kai­ser Nero wähn­te sich als Schau­spie­ler und Sän­ger. So viel zu …böse Men­schen haben kei­ne Lie­der… Eben doch! Sie haben Kriegs­ge­heul, Kano­nen­schlä­ge, Marsch­mu­sik und Schla­ger fürs Volk. Und sie haben Archi­tek­tur von Albert Speer, Fotos von Leni Rie­fen­stahl, Kin­der­bü­cher von Karad­zic und »Eis­blu­men auf bereif­tem Fens­ter« von Wla­di­mir Putin. Ein Hohn für alle Künstler:innen, die ihr Talent, ihren Mut und ihr Leben für die Kunst geben, dass das Mach­werk für umge­rech­net 860.000 Euro ver­stei­gert wur­de. Der KUNST­af­fi­ne Mensch lei­det Schmer­zen beim Anblick ver­ge­wal­tig­ter Kunst oder krea­ti­ver Abson­de­run­gen selbst­ver­lieb­ter Despoten.

Was also tun? Des­po­ten ist das Malen ver­bo­ten, möch­te man brül­len und den Ver­kauf wah­rer Kunst an Dik­ta­tu­ren (des schlech­ten Geschmacks) unter­bin­den. Das Pro­blem ist nur, dass wir alle über­zeug­te Demokrat:innen sind und hin­neh­men müs­sen, dass das Volk sol­che Kunst­ver­äch­ter meis­tens selbst gewählt hat. Aus die­sem Dilem­ma gibt es kei­nen Aus­weg – es sei denn, Jona­than Mee­se wird Erz­kai­ser. Haha­ha­ha! – Echt jetzt?

Ja, echt. Zumin­dest die Idee einer Dik­ta­tur der Kunst hat was Reiz­vol­les. Außer­dem ist sie so all­um­fas­send wie die Kunst selbst und schließt nie­man­den aus. Selbst der Dik­ta­tor kann sich in einer abso­lu­tis­ti­schen Herr­schaft des (KUNST-)Geistes zuhau­se füh­len. Die Frei­heit der Kunst ermög­licht ihm, wie allen ande­ren Men­schen, den tota­len Selbst­aus­druck und garan­tiert, dass dabei nicht Angst und Schre­cken, son­dern Inspi­ra­ti­on und Expres­si­on ver­brei­tet wird. Denn: Wohl die aller­meis­ten Men­schen wür­den es ableh­nen, in Form einer Per­for­mance in einen Krieg zu zie­hen und alles umzu­brin­gen, was den­ken kann. Nur sehr weni­ge Men­schen wür­den für die Kunst töten.

Natür­lich wür­de eine Welt­herr­schaft der Kunst eine enor­me geis­ti­ge Anstren­gung der Mensch­heit vor­aus­set­zen, was sie ange­sichts des Zustan­des des Pla­ne­ten uto­pisch erschei­nen lässt. Ande­rer­seits soll man die Hoff­nung nicht auf­ge­ben. Klar ist, dass die Demo­kra­tie geschei­tert ist. Wer »das Volk« wäh­len lässt, ent­schei­det sich für Gier und Gewalt. Das führt zu apo­ka­lyp­ti­schen Kri­sen und da zwingt sich mir ein belieb­ter Kalen­der­spruch auf: Beson­de­re Umstän­de erfor­dern beson­de­re Maß­nah­men. Wenn wir schon nicht so wei­ter­ma­chen kön­nen, dann wäre eine Dik­ta­tur der Kunst eine ech­te Alter­na­ti­ve. Alles Han­deln wür­de in dem Bewusst­sein, KUNST zu schaf­fen, gesche­hen und wäre somit mit Den­ken, Füh­len, Reflek­tie­ren und Sinn ange­füllt. KUNST­voll zu leben, also das Sein zu gestal­ten, ver­än­dert nicht nur das Indi­vi­du­um, son­dern alles. Die von Beuys beschrie­be­ne »Sozia­le Plas­tik« wür­de eine ande­re Form anneh­men und ihren Aus­druck ver­än­dern. Ihr mensch­li­ches Ant­litz wür­de sei­ne Mons­tro­si­tät verlieren.

Der Arti­kel ist in der Print-Aus­ga­be 4.22 AFFINITY erschienen.

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geschrieben von

Malt, schreibt, performt und bringt Texte und Bilder als Gesamtkunstwerk mit Musikern auf die Bühne. Ausstellungen und Performances in Deutschland und Dänemark. Mit ihrer Bildserie „La Gonzesse“ in Sammlungen, Galerien und Medien erfolgreich. Anja Es: KUNST! in der Alten Vogtei, Travemünde.

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