Der Künstler Giuseppe Stampone im Gespräch mit Azzurra Immediato
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft. Medien, Symbole, Vorherbestimmung. Träume, Ängste, Wünsche, Bedürfnisse. Das Unbekannte. Sie beziehen sich auf das Unbewusste und das rationale Denken, sie treffen sich in der von emotionaler Intelligenz diktierten Schwebe, in der die Kunst und die Künstler fähig sind, die Dynamik der Welt und unseres Lebens auf eine einzigartige, uralte und zugleich vorhersagende Weise zu betrachten. In diesen Paradigmen können wir einen Teil der Recherchen von Giuseppe Stampone erkennen, der anlässlich der 59. Internationalen Kunstausstellung zur Biennale di Venezia zurückkehrt, um mit Rafael Villares und Kcho den Kuba-Pavillon zu bespielen. Terra Ignota (Entwürfe für eine neue Welt) ist das vom Kurator Nelson Ramirez de Arellano Conde gewählte Thema, bei dem Raum und Zeit Perspektiven definieren, die in der Lage sind, den Blick vom Selbst abzuwenden, um eine nicht-egoistische Zielgerade im Hinblick auf eine neue Welt zu definieren. Vormals Korea-Pavillon, jetzt Kuba-Pavillon: In beiden Fällen wurde Stampone aufgefordert, über die Gestaltung der Zukunft und aktuelle Ereignisse nachzudenken, die er bereits in Projekten »vorhergesehen« hatte, die ausgehend von bekannten Ikonen nicht greifbare Szenarien (nach)gezeichnet haben. Die Geschichte der Kunst ist die Geschichte des Menschen: Kann die Biennale 2022 ein Hilferuf an die Künstler sein für ein Verständnis darüber, was uns die Zukunft bringen wird und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen?
Die Welt hat sich in den letzten zwei Jahren verändert, in diesen Tagen wird Osteuropa von einem Krieg heimgesucht. Ist die Welt, in der wir zukünftig leben werden, ein »unbekanntes und beängstigendes Land?
GIUSEPPE STAMPONE: Was hier geschieht, ist die Metamorphose eines kranken Denkens, das aus einer positivistischen Konzeption heraus entstanden ist, von der Renaissance bis heute, seit der Mensch sich selbst begrifflich und physisch in den Mittelpunkt des Universums gestellt hat, um die Welt zu beherrschen, sie zu messen, die gemeinsame Zeit und den gemeinsamen Raum anzuhalten. Dies liegt eher in der Natur des Menschen als in der Natur der Dinge. Aus der Renaissance stammen Gutenbergs Perspektive und Druck, die ich als Vernichtungswaffen betrachte, die der Atombombe gleichkommen – Instrumente, die die Welt katalogisiert haben. Die Perspektive ist nichts anderes als eine politische Vision der Welt, in der wir die empirische, reale, emotionale Vision verloren und sie perspektivisch in einen Käfig verwandelt haben. Das Gleiche gilt für Gutenbergs Schriftzeichen: Sie beendeten die Erfahrung des gesprochenen Wortes, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde; die erfahrungsbedingte Rationalisierung der zweidimensionalen Konstruktion eines Blattes, der Ausrichtung des Schreibens und Lesens darin, hat der empirischen Entdeckung einen Stein in den Weg und den Grundstein dafür gelegt, was wir heute erleben: der Mensch im Konflikt, der weder in Harmonie mit sich selbst, mit anderen oder mit der Natur lebt.
Das macht mir keine Angst, ich nehme diese Realität seit Jahren in einer »Nicht-Harmonie « mit dem populistischen Denken dieser Welt wahr. Ich beobachte die Mythomanie, den extremen Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen und alles dafür zu opfern. Daraus entstand eine neue Realität. Was mich erschreckt, ist die Reaktion vieler Menschen, die sich erst jetzt der fehlenden Harmonie zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur bewusst werden. Der von Russland gewollte Krieg in der Ukraine ist eine Folge des Kalten Krieges, den wir vergessen glaubten. Grenzen, Privateigentum, Machtmissbrauch sind anachronistische Elemente, wie uns die aktuellen Ereignisse lehren, es sind Kinder eines längst vergessenen Kolonialismus. Vielleicht hat Europa noch eine Chance: und zwar die Entwicklung einer einzigartigen Vision von Freiheit und Akzeptanz, indem es sich gegenüber der Welt und sogar Russland ins Spiel bringt, um eine neue wahre Harmonie entstehen zu lassen. Wie ich schon vor Jahren im Projekt EUROPA VS EUROPA veranschaulicht habe, ist Europa ein Feind seiner selbst, das niemals geeint, geteilt, partizipativ, konstruktiv ist; es stand immer nur das wirtschaftliche Potential im Vordergrund.
Heute möchte ich zwei Schlüsselthemen untersuchen: Harmonie und Gleichgewicht im philosophischen und konzeptionellen Sinne. Dimensionen, die durch die Metapher des Atmens, einer Handlung zur Sauerstoffversorgung des Geistes, erreicht werden können. Die Spannung des Kapitalismus, des Eurozentrismus, beschleunigt die Atmung, das Herz und den Organismus und vergiftet sie schließlich. Wir müssen wieder ein- und ausatmen, neue Ideen, neues Leben einatmen und durch Ausatmen das herauslassen, was nutzlos ist. Wir steuern zweifellos auf etwas Unbekanntes und Verängstigendes zu, eine Ursache unserer gefürchteten Realität; die Natur wird ihren Lebensraum zurückerobern und die Zyklen von Zeit und Raum werden wieder aufgenommen werden. Vielleicht wird das für uns Menschen ein erschreckendes Erlebnis werden, aber für die Natur wird es eine wahre Wiedergeburt sein; ohne die Bedrängnis durch den erobernden Menschen, den Zerstörer der Harmonie.
Ihre Präsenz auf der Kunstbiennale in Venedig – nach den Erfahrungen der Architekturbiennale 2021, auf der Sie im koreanischen Pavillon präsent waren – ist geprägt von dem Dialog mit fernen Realitäten, die sich aber über alle Grenzen hinweg durch die Kunst ziehen und es schaffen, sich Ihrem konzeptuellen Modus Operandi anzupassen, mit dem Sie die Grenzen von Raum und Zeit sprengen, um den Wert des Verstehens zu konkretisieren. Welchen Ansatz verfolgten Sie letztes Jahr und welchen werden Sie bei der diesjährigen Biennale verfolgen?
Ich würde die beiden Länder wie folgt beschreiben: Korea, Harmonie und Ausgeglichenheit; Kuba, Dynamik und Energie. Die zwanzigjährige Verbundenheit mit Korea entstand während der Biennale von Gwanju: Es ist eine tiefe Beziehung zu einem Gebiet, einer Philosophie, einer Art, die Welt, das Leben, die Natur wahrzunehmen, kurz gesagt, es ist eine »Art zu atmen«, die ich verinnerlicht habe. Die orientalische Kultur hat meine »westliche Aufregung« gebremst, sie hat es mir ermöglicht, eine neue Beziehung zu mir selbst, zu anderen und zur Natur aufzubauen. Die Formalisierung im Korea-Pavillon der Architekturbiennale 2021 war ein Gemeinschaftsprojekt mit der Künstlerin Maria Crispal, Mitbegründerin des Netzwerks Solstizio.org und bietet einen bewusstseinsbildenden Ansatz mittels Didaktik. Die GLOBAL EDUCATION ist eine neodimensionale Schule, in der über Neue Medien Fragen der ökologischen Dringlichkeit und des Schutzes der Menschheit über eine Didaktik angesprochen werden, die als »Architektur der Intelligenz« bezeichnet wird. Es handelt sich aus projekttechnischen Gesichtspunkten nicht um eine festgefahrene und diktatorische Didaktik, die den Einwohnern geboten wird, sondern sie ist eher fließend und verbindend. Ein Zusammenspiel aus Geist | Körper | Raum / Geist | Körper | Netzwerk, das mittels der Erfahrung des Individuums partizipative und gemeinsame Strukturen entstehen lässt, angefangen bei den neuen Generationen, wie den Kindern. Die Besucher wurden daher eingeladen, mit den Tätigkeiten dieser neodimensionalen Schule zu interagieren. Auch das Projekt 2022 hat seinen Ursprung in der privilegierten Beziehung zu dieser Nation, die auf meine Teilnahme an der Biennale in Kuba zurückgeht. Ich war sofort von dieser anderen, vitalen Denkweise angetan, einer angestammten Vorstellung von der Verbundenheit zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch. Trotz seiner Geschichte ist Kuba kein Gefangener mental toxischer und individueller Überstrukturen; während sich Korea heute wieder auf seine Beziehung zur Natur konzentriert, projiziert sich Kuba auf den idealen Traum der Verwestlichung, des globalen kapitalistischen Dorfes, spürt aber noch nicht die Gefahr, die davon ausgeht, im Vergleich zu jener Freiheit, die bisher seine Rettung war.
In Bezug auf das Alltagsleben ist Ihre Arbeitsweise eher atypisch: Auf die blinde und bulimische Raserei von Bildern, Vorstellungen und Informationen reagieren Sie mit Ausdehnung von Zeit und Raum, es scheint, als wollten Sie den Begriff »Kunst machen« neu erfinden. Wie passt das in die Vision einer noch ungeschriebenen Zukunft?
Eine entscheidende Frage, denn das, was in der Regel aus meiner Arbeit hervorgeht, ist das endgültige Werk und zwar nur die ästhetische, ethische, jedoch keine prozessuale Formgebung. Ja, aber was mich wirklich interessiert, ist die Zeit und deren Analyse mittels Mäeutik. Wie Sie schon gesagt haben, bedeutet »schaffen« für mich die Wiederaneignung der Zeit; durch das Symbol, die Zeichnung setze ich den Ebenen von Räumen und Zeiten meinen Stempel auf. Heutzutage muss man auch im Kunstmarkt im Zuge der Globalisierung, des Kapitalismus, der Geschwindigkeit, die uns vom Internet auferlegt wird, ständig produzieren. Ich lehne aber das Diktat dieser Faktoren ab. Ich bin der Künstler und entscheide selbst, wie viele Werke ich schaffe. Und zwar mit Arbeit, die kein manieristisches, sondern ein konzeptuelles, prozessuales Element ist. Diese Philosophie, die bereits in mir schlummerte, manifestierte sich gerade im Orient, wo die Beobachtung dessen, was sich mit Weisheit und Aufmerksamkeit wiederholte, dazu tendierte, die Geste zur Perfektion zu erheben. Tatsächlich besteht mein Arbeitsvokabular aus Begriffen wie Prozess – und nicht Art und Weise –, Zeit, Atem, Wiederaneignung, Ungehorsam, Privatsphäre, Gleichgewicht – auch das zwischen Künstler und Werk. Wie wird die Zukunft aussehen? Heute glaubt der Mensch, dass er das Scheitern nicht zu vermeiden braucht – es gibt sie nicht, sie ist nur eine einfache mentale Konstruktion, eine Rechtfertigung für den Menschen, eine selbstzerstörerische phallische Reaktion – sondern dass wir in gewissem Sinne in der Zukunft wieder aufatmen, ein richtiges Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur reaktivieren und uns das Selbst wieder aneignen müssen. Diesen Prozess vollziehe ich mit den Medien, mit Gesten, fließender Harmonie und vermeide giftige Einflüsse von außen: Alles wird zu einem neuen Atemzug, einer Zukunftsvision.
Das Künstlerauge weiß die Zukunft vorauszusehen. Und das nicht, weil es Glück hat, sondern weil es die unbewusste Fähigkeit besitzt, die Welt durch die emotionale Intelligenz betrachten zu können; der prophetische Wert der Erforschung kollektiver Dynamiken erzeugt einen Graben, in dem der mäeutische Akt und das Werk eine andere Bedeutung haben als nur den Wert des hic et nunc. Worauf läuft Ihr »Entwurf für eine neue Welt« hinaus?
Der Entwurf für eine neue Welt, liebe Azzurra, muss von Ihnen selbst ausgehen, von jeder einzelnen Erfahrung, und zwar noch bevor er sich in eine Veränderung der Masse verwandelt. Wenn jeder von uns einige kleine tägliche Gesten ändert, vermeiden wir irreparable Schäden. Wir müssen uns alle individuell dazu erziehen, Verantwortung zu tragen, den homologisierenden Strom der Masse verlassen, der beschleunigt und zerstört. Kehren wir zurück zum Respekt gegenüber unserem Körper, unserem Geist, unserem Raum – das Konzept der Architektur der Intelligenz kehrt zurück, Geist | Körper | Raum / Geist | Körper | Netzwerk – durch den Atem senken wir die Erregungen der Masse und regenerieren das Gleichgewicht. Für eine Neue Welt wünsche ich mir eine Global Education, verstanden als subjektive Rückerziehung der Masse: eine Art und Weise, sich von dieser Welt rückzuerziehen, durch das Atmen im Einklang mit Mutter Erde und durch Selbstkritik, um uns vor dem Wahnsinn, der uns gegenwärtig umgibt, zu retten. Wir sind nur Gäste auf diesem Planeten, aber wir tun so, als seien wir seine Eroberer und gestalten ihn nach unserem Bilde; ich glaube ehrlich gesagt nicht an die utopische Staatspolitik, sondern nur an die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung.
Ihre Kunst ist politisch orientiert und Sie haben die Diarchie von Frieden und wirtschaftlicher Macht miteinander verbunden, die in diesen Stunden vor unseren Augen abläuft. Soziale Medien haben die Regeln der internationalen Diskussion geändert und die Szenarien mit Symbolen und deren Bedeutungen haben sich verändert. Doch in diesem Magma scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Wie bauen Sie diese Veränderungen in Ihr Werk ein?
Meine Arbeit ist eine Anklage der Welt, wie wir sie kennen und die wir fast zerstört haben; alle meine Studien weisen auf den Wunsch nach Veränderung hin, denn ich lehne es ab, alles für trügerische Schnelllebigkeit und kollektive Verrohung zu opfern. Ich sehe in der Wiederaneignung des persönlichen Raums und der Zeit durch den Schaffensprozess, der wahren Verwirklichung, den einzigen Weg, um zu einem notwendigen Gleichgewicht zurückzufinden. Meine Arbeiten halten uns dies ständig vor Augen, sie widersetzen sich dem phallischen Wahnsinn unserer Zeit. Mein künstlerischer Schaffensprozess drückt die Weigerung aus, am weltweiten Wahnsinn teilzunehmen. Eine Weigerung, die sich in eine privilegierte Beziehung zum Schaffen – der Kunst – umsetzt, und zwar auf einer philosophischen und materiellen Ebene eines harmonischen Miteinanders im vollen Bewusstsein von Raum und Zeit gegen die zeitgenössische Schizophrenie.
Was werden wir vom Kuba-Pavillon 2022 lernen?
Das Kuba-Projekt wird sich ganz der Umwelt widmen und das Bewusstsein durch einmalige Erfahrungen schärfen, die erst dann partizipativ werden. Der Titel DIE NATUR DER DINGE. WELCOME TO GRAN SASSO ist die Zusammenfassung einer Reihe von Ausflügen, die ich in den Abruzzen, in meinem Land, auf »meinem« Gran Sasso gemacht habe: Es ist der Berg, den ich täglich betrachte, der durch die Umweltverschmutzung gefährdet ist, denn die ersten Gletscher ziehen sich bereits zurück. Also versuche ich, ein »Archiv der Zukunft« durch Erkundungen zu erstellen, die ich mit einem Freund, einem fachkundigen Führer, Alessandro Di Francesco, und einem Fotografen, Gino Di Paolo, durchführe. Monatelang haben wir den Berg erlebt und Pfade, Pflanzen, einheimische Blumen katalogisiert, um das Bewusstsein für die Natur zu wecken. Der Inhalt des Projekts wurde von mir als Künstler geschaffen, steht dem Betrachter jedoch als Möglichkeit der Beteiligung durch Ideen des Schutzes und der Erhaltung zur Verfügung. Das Publikum muss sich in der Tat mit Werken befassen, die nicht die natürliche Realität wiedergeben, sondern sozusagen Darstellungen eines chemischen Prozesses sind – verwirklicht im Dialog zwischen Graphitbild und Pantone-Rahmen im Druck – ein Kunstgriff, der die Menschen dazu verleiten soll, die irrealen Bilder auf den Bildschirmen zu vergessen und Orte in der freien Natur zu erleben, wiederzuentdecken und zu beschützen.
Die Entschlüsselung der Vergangenheit wird heute in Szene gesetzt; dies geschieht gemäß einem Archiv, das eine bewusste und selbstkritische Nostalgie der Zukunft ist. Stampone setzt dieser Entschlüsselung den utilitaristischen Sinn für die zwanghafte seelenlose Reproduzierbarkeit kollektiver Dynamiken und Handlungen entgegen, die die Welt zerstört haben, auf der wir wohnen. Das Unbekannte, das uns so nahe und doch so unklar ist, ist vielleicht der neue, wahre Weg der Wiedergeburt, und eine neue Welt kann nur aus dem entstehen, das wir noch nicht kennen, und uns zu einem Nullpunkt der Beziehung zurückführen, mit harmonischer, ethischer und variabler Geometrie; die Kunst, die Landkarten der Künstler, zeigen einen Weg, den es zu beschreiten gilt, nicht aus Angst vor Entdeckung, sondern als geeignetes Instrumentarium für die Reise, die wir unbedingt unternehmen müssen.