„KUNST, DIE FÜR DIESEN MOMENT GEEIGNET IST.“
Am Weltfrauentag 2020 ging ein gepostetes Bild geflüchteter Frauen auf einem perfekt inszenierten Laufsteg um die Welt. Darunter Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks. Dahinter steckt der iranische Filmemacher, Fotograf und Künstler Mostafa Heravi. Er schafft digitale Bilder mit prägnanten und ironischen Aussagen, die durchaus sozialkritisch sind und zum Nachdenken sowie zur Diskussion anregen. Sein Publikum, das sich zu zwei Dritteln im Nahen Osten befindet, erreicht der visuelle Künstler über Social-Media-Plattformen. Uns interessiert die Geschichte Heravis und sein Wirken als Künstler. Wir erreichen ihn in Amsterdam, wo er seit seiner Flucht aus seinem Heimatland lebt und sprechen mit ihm über seine »Reise« in den Westen, den Wunsch einen Film darüber zu drehen, sein visuelles Talent, die Spontaneität, die Ironie, den Schmerz und die Macht der Künstlerschaft.
Mostafa, du bist Iraner und in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen. Inwiefern hat dieses Umfeld deine künstlerische Arbeit beeinflusst?
MOSTAFA HERAVI: Ich bin in den 80er Jahren im Iran aufgewachsen, wurde in Mashhad geboren, der zweitgrößten Stadt des Irans, die im Nordosten liegt. Mashhad ist eine sehr religiöse Stadt und ein wichtiger Pilgerort. Ich wuchs in einer sehr traditionellen, großen Familie mit neun Geschwistern auf, und wir mussten als Kinder an vielen religiösen Ritualen und Aktivitäten teilnehmen. Als ich 6 Jahre alt war, begann der iranisch-irakische Krieg, und unsere Lebensfreiheit wurde stark eingeschränkt. Das Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, hatte einen großen Einfluss auf mich. Das motivierte mich, Künstler zu werden, und formte mich zu dem Künstler, der ich heute bin.
Bereits in der Kindheit kamst du mit Malerei in Kontakt, ist das richtig?
MOSTAFA HERAVI: Ja, im Alter von etwa 7 Jahren habe ich mit dem Zeichnen angefangen. Ich war ein sehr neugieriges Kind und wollte tagsüber immer auf Entdeckungsreise gehen. Solange ich mich erinnern kann, war ich sehr visuell veranlagt. Ich erinnerte mich sehr genau an das, was ich während meiner Erkundungen gesehen hatte, und zeichnete Bilder davon, wenn ich nach Hause kam. Immer sehr detailliert, sehr genau. In jungen Jahren habe ich mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier gezeichnet. Später begann ich, mich auch mit persischer Kalligraphie zu beschäftigen. Im Alter von etwa 15 Jahren, kurz nach Kriegsende, begann ich zu malen, so realistisch wie möglich. Ich war etwa 20 Jahre alt, als ich in Mashhad als Friseur zu arbeiten begann. Direkt neben meinem Arbeitsplatz befand sich eine Kunstgalerie, die ich gerne besuchte. Ich beobachtete die Künstler, die im Hintergrund arbeiteten, und das weckte mein Interesse an der Malerei. Ich wurde Schüler der dort arbeitenden Kunstmeister, die mir im Laufe der Jahre viel beibrachten.
Gab oder gibt es für dich als Künstler Vorbilder – Menschen, die dich in deinem Denken oder deiner Arbeit irgendwie beeinflussen oder deren Schaffen du bewunderst?
MOSTAFA HERAVI: Auf jeden Fall. Ich bewundere die Arbeiten von Salvador Dalí, Egon Schiele und René Magritte. Ihr Werk hat mich dazu inspiriert, vom sehr realistischen Zeichnen und Malen zu einer eher surrealistischen Arbeit überzugehen. Jahre später wuchs mein Inter-esse für den Film und das Kino, und ich habe die Arbeiten von Abbas Kiarostami und Forough Farrokhzad sehr geschätzt.
Kannst du uns kurz skizzieren, wie du deine »Reise« in den Westen erlebt hast? Welche Stationen waren Teil davon?
MOSTAFA HERAVI: Meine Reise in den Westen führte ausgehend von Mashhad nach Tadschikistan. Dort verbrachte ich 6 Monate und versuchte, einen Plan zu entwickeln, um in den Westen zu gelangen. Das schien unmöglich, also beschloss ich, zurückzugehen. Das nächste Mal nahm ich einen Bus vom Iran in die Türkei und begann eine sehr gefährliche Reise von der Türkei nach Griechenland und nach Italien. Ich bin den größten Teil des Weges zu Fuß gegangen, habe unterwegs andere Flüchtlinge getroffen und bin schließlich in Holland angekommen. Diese Reise war wirklich hart und ich werde nie vergessen, was auf dieser Reise passiert ist. Ich hoffe, dass ich eines Tages einen Film darüber drehen kann.
Du bist Filmmacher, Fotograf und Künstler. Unterschiedliche und den-noch verwandte Ausdrucksformen. Es geht um die Bildsprache, um das Vermitteln von Emotionen bezogen auf den einen Moment. Wie würdest du den Charakter deiner Bildsprache beschreiben?
MOSTAFA HERAVI: Zu Beginn meiner Karriere interessierte ich mich vor allem für die Malerei und das Zeichnen. Später widmete ich mich den Kurzfilmen, Videoclips und der Fotografie. Dabei habe ich festgestellt, dass die Art der Arbeit, die ich mache, für mich keine Rolle spielt, solange sie nur visuell ist. In den letzten zehn Jahren wurden die sozialen Medien immer beliebter. Für mich sind die sozialen Medien die beste Plattform, um meine Arbeit zu präsentieren und in direktem Kontakt mit meinem Heimatland zu bleiben. Mit meiner Arbeit möchte ich ein junges Publikum im Iran beeinflussen und Veränderungen bewirken. Ich möchte mit der Zeit gehen, in der wir leben, und Kunst produzieren, die für diesen Moment geeignet ist.
Hast du in deinem Leben häufig spontane Entscheidungen getroffen? Welche Rolle spielt die Spontaneität bei deiner künstlerischen Arbeit?
MOSTAFA HERAVI: Ja, häufig. Ich wache jeden Morgen auf und bin bereit, eine spontane Entscheidung zu treffen. Ich schaue mir die Nachrichten an und mache spontan Kunst zu dem, was an diesem Tag passiert ist. Mir ist klar, dass die sozialen Medien meine Bühne sind, um diese Arbeit zu präsentieren, weil ich auf diese Weise ein großes Publikum und vor allem die iranische Gesellschaft erreichen kann. Die sozialen Medien ermöglichen es mir, meine Kunst sofort zu präsentieren, was ihr mehr Relevanz verleiht. Meine Reise in den Westen war ebenfalls spontan und hat mein ganzes Leben verändert.
Du hast Musikvideos produziert und als Regisseur Filme gedreht. Wie näherst du dich einem Filmprojekt? Welche Themen interessieren dich, in eine Szenografie zu bringen?
MOSTAFA HERAVI: Ich habe etwa 25 Videoclips gedreht und bei einer Reihe von Filmen Regie geführt. Ich interessiere mich für das persönliche Leben der Menschen. Ich mag es, mich mit der persönlichen Geschichte von jemandem zu verbinden. Wenn ich an einem Film arbeite, sind die visuellen Aspekte für mich am wichtigsten, deshalb stehen sie immer an erster Stelle. Danach kommen die Geschichte, die Schauspieler und der Rest. Themen, mit denen ich mich gerne auseinandersetze, sind das soziale Leben, die Menschen und die Umwelt, vor allem im Iran. Ich betrachte mich und meine Arbeit nicht als literarisch oder poetisch, wie viele iranische Künstler. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ich poetisch sein kann, ohne Worte zu verwenden.
Welche Elemente sind für dich als Regisseur wesentlich, um ein Filmprojekt erfolgreich umzusetzen? Gibt es da bestimmte Arbeitstechniken und ‑gewohnheiten?
MOSTAFA HERAVI: Ich mag es, eine Geschichte auf einfache Weise zu erzählen, manchmal sogar ohne Worte. Minimalistisch, die Bilder sollen für sich selbst sprechen. Ich verwende gerne meine Handkamera anstelle von Stativen und statischen Kameras für einen persönlicheren Ansatz.
Du bist Künstler und als solcher auch Aktivist und in deiner Bildsprache gesellschaftskritisch engagiert und motiviert. Beispielsweise machst du mit ausdrucksstarken Bildern auf Flüchtlingskrisen, Kriege, frauenfeindliche Regime, Diktaturen, Menschenrechtsverletzungen etc. aufmerk-sam. Wen erreichst du damit? Wie reagiert das Publikum?
MOSTAFA HERAVI: Mein Publikum besteht zu etwa 65 % aus Persern, aber auch aus arabischen Ländern und Menschen weltweit. Mei-ne Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf den Nahen Osten, und aufgrund des Stils und der von mir genutzten Social-Media-Plattform zieht sie vorwiegend die junge Generation an. Einige meiner Arbeiten erfordern Hintergrundwissen, aber viele Arbeiten sind für ein breites Publikum zugänglich. Ich mag es, meine Arbeiten offen zu interpretieren, ohne zu urteilen, und überlasse es den Betrachterinnen und Betrachtern, sie selbst zu interpretieren. Die Reaktionen auf meine Arbeiten sind sehr unterschiedlich; meine Werke haben ihre Liebhaber und ihre Verächter. Das Wichtigste ist, dass sie ein Gespräch auslösen, eine Diskussion, die zum Ausgangspunkt für Veränderungen werden kann.
Auf den ersten Blick muten deine Bilder auf deinem Instagram Account surreal und dadurch auch ironisch an – auf den zweiten entdeckt man die Kritik, die Wut, die Ungerechtigkeit. Denkst du, es ist wichtig, dass im Ausdruck von Tragik auch Ironie stecken darf, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf diese ernsten Themen zu lenken?
MOSTAFA HERAVI: Ich glaube, das ist meine Stärke. Ich kann Kunst über die härtesten Themen machen, ohne dass man Bauchschmerzen bekommt. Ich denke, dass man kein direktes Bild sehen muss, aber trotz-dem den Schmerz spüren kann. Das lässt Raum für die eigene Interpretation und die eigenen Gefühle. Im Nahen Osten ist Kunst oft Propaganda. Die verwendete Sprache ist oft aggressiv. Mit Ironie möchte ich Raum schaffen, damit sich die Menschen eine eigene Meinung bilden können, und sie herausfordern, selbst zu denken.
Die sozialen Medien tragen wesentlich zur Verbreitung deiner Kunstwerke bei. Die Manipulationskraft – Stichwort Fake News – ist durch die zunehmende Nutzung sozialer Medien im vergangenen Jahrzehnt auch enorm angestiegen. Wie ist dein Standpunkt in diesem Kontext?
MOSTAFA HERAVI: Die sozialen Medien haben mich gelehrt, dass es einen anderen Weg gibt, ein Publikum zu erreichen. Einen einfacheren und für mich geeigneteren Weg. Beispielsweise habe ich einmal ein Kunstwerk gemacht, auf dem ein McDonalds in der Wüste zu sehen war, und die Leute begannen, nach diesem Ort im realen Leben zu suchen. Ich mag es, die Gedanken der Leute anzuregen und sie denken zu lassen: Ist das echt? Könnte das echt sein? Was ist, wenn das echt ist?!
Findest du, Künstler*innen sollten sich mehr in die globalen sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen einbringen?
MOSTAFA HERAVI: Dies ist den Künstlerinnen und Künstlern selbst überlassen. Einige Künstler sind vielleicht mehr daran interessiert als andere, sich stärker zu engagieren. Ich sehe meine Rolle darin, mich dieser Herausforderung zu stellen.
Denkst du, dass du als Künstler andere Möglichkeiten hast zu sensibilisieren als die Politiker und hochdekorierten Experten?
MOSTAFA HERAVI: Auf jeden Fall. Die Politiker und Experten haben die Macht, neue Regeln und Vorschriften zu erlassen. Aber die Künstlerschaft hat die Macht, Kritik zu üben, Ironie und Raffinesse einzusetzen, um eine Veränderung herbeizuführen.
Was wünscht du dir als Künstler für die Zukunft?
MOSTAFA HERAVI: Ich möchte die Arbeit, die ich derzeit mache, fortsetzen und immer wieder neue Werke schaffen und einen Film über meine Reise vom Iran in die Niederlande drehen. Ich hoffe, dass ich dieses Projekt eines Tages verwirklichen kann.
Wir wünschen dir, dass du diesen Traum in die Realität umsetzen kannst und bedanken uns für das offene Gespräch.
Das Interview ist in der Printausgabe special edition SPONTANEITY erschienen.