Cross-Over zwischen Glauben, Kunst und Leben

Ein Gespräch mit Bischof Hermann Glettler

Es waren stets die bes­ten Künst­ler ihrer Zeit, die auf­re­gends­ten, die die Kir­che enga­giert hat und nach die­sem Prin­zip wird in der Diö­ze­se Inns­bruck auch gegen­wär­tig agiert. Ein Beweis dafür ist das Kunst­pro­jekt »Gebt mir Bil­der! – Zeit­ge­nös­si­sche Kunst in Inns­bruck und Hall«, das anläss­lich des Petrus-Cani­sius-Jah­res rund 50 Wer­ke inter­na­tio­nal aner­kann­ter Künst­le­rin­nen und Künst­ler der Gegen­wart in Kir­chen und auf kirch­li­chen Plät­zen in Inns­bruck und Hall einem gro­ßen Publi­kum zugäng­lich macht. Zu sehen sind die Gerech­tig­keits­spi­ra­le von SUSI POP und das in der­sel­ben Re-Make-Tech­nik gefer­tig­te berühm­te Gemäl­de »Die sie­ben Wer­ke der Barm­her­zig­keit« oder Tho­mas Lochers Sze­nen des Judas­kus­ses und der Fuß­wa­schung aus den berühm­ten Fres­ken Giot­tos in Padua, in die er reli­ef­ar­tig eine Buch­sta­ben-fol­ge zur Kapi­tal­zir­ku­la­ti­on inte­griert: W‑G-W (Ware-Geld-Ware) und G‑W-G (Geld-Ware-Geld). Einen neu­nen Blick­win­kel eröff­net die Instal­la­ti­on des Wer­kes Altar des Künst­lers Kris Mar­tin am Ein­gang des Hal­ler Fried­hofs. Die metal­le­nen Außen­li­ni­en der lee­ren Altar­ta­feln, durch die sich der erha­be­ne Bet­tel­wurf ab-zeich­net, ver­bin­den sich zu den Umris­sen des Gen­ter Altars. Auf eine lebens­gro­ße männ­li­che Figur mit dem Titel ECCE HOMO von Mark Wal­lin­ger und das 1997 ent­stan­de­ne Video »Angel« vom sel­ben Künst­ler trifft man im Dom. Es zeigt Wal­lin­ger mit ver­dun­kel­ter Bril­le und Blin­den­stock auf der Roll­trep­pe der Lon­do­ner U‑Bahn – irr­lich­ternd hin­un­ter­schrei­tend auf der gegen­läu­fi­gen Bewe­gung der Trep­pe. Da-bei zitiert er unun­ter­bro­chen aus dem Pro­log des Johan­nes­evan­ge­li­ums: »Am Anfang war das Wort«. Im Bischofs­haus hän­gen Bild­ta­feln des fran­zö­si­schen Künst­lers Guil­laume Bruè­re. Das zen­tra­le Werk ist ein Kreuz, aus dem die ver­wun­de­ten Hän­de und Füße von Chris­tus her­aus­ra­gen. Sie ver­mit­teln eine Leben­dig­keit und Zuwen­dung, eine heil­sa­me Alter­na­ti­ve zum gie­ri­gen Raf­fen, Jagen und Rau­ben unse­rer Zeit. Am Vor­platz der Jesui­ten­kir­che befand sich meh­re­re Wochen das Werk SCHWAMM 4.0 von Michel Abdol­lahi, das einen im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes auf­ge­saugt hat. Lei­der wur­de es der­ma­ßen deva­stiert, sodass es ent­fernt wer­den muss­te. Die gesam­te Schau öff­net einen inten­si­ven Dia­log rund um exis­ten­ti­el­le The­men des Mensch­seins und des Glau­bens, weil Petrus Cani­sius Bil­dung, Reli­gio­si­tät und sozia­les Ver­hal­ten immer als zusam­men­ge­hö­rig ver­stan­den hat.

Initia­tor der anspruchs­vol­len künst­le­ri­schen Inter­ven­tio­nen ist der von zeit­ge­nös­si­scher Kunst über­zeug­te Bischof Her­mann Glett­ler, kura­tiert wird die Schau vom Kunst­his­to­ri­ker Dr. Hubert Sal­den, der vor Jah­ren die Kunst­hal­le Tirol gelei­tet hat. »Die Aus­stel­lung pro­vo­ziert ein fri­sches Nach­den­ken über grund­sätz­li­che Fra­gen des Mensch­seins und des Glau­bens. Neu­es tut sich auf – Räu­me, um sich berüh­ren zu las­sen und in einen Dia­log des Her­zens ein­zu­tre­ten. Bil­dung braucht gute, star­ke Bil­der: Hier sind sie!«, betont Bischof Her­mann Glett­ler. Uns macht die kunst­sin­ni­ge Ader der Bischofs neu­gie­rig und wir tref­fen ihn anläss­lich des The­mas der Aus­ga­be »Bey­ond Bor­ders«, um über Kunst und Glau­ben, über die Ver­bin­dung zwi­schen Him­mel und Erde, über den Reso­nanz­raum und die Bil­dung der See­le, Grund­fra­gen von Spi­ri­tua­li­tät und das Geheim­nis von Got­tes Gegen­wart in sei­ner Schöp­fung zu sprechen.

Bevor wir auf das Kunst­pro­jekt im Rah­men der 500-Jah­re-Fei­er des Diö­ze­san­pa­tron Petrus Cani­sius in Tirol zu spre­chen kom­men, wür­de uns inter­es­sie­ren, wie Sie sich der Kunst genä­hert haben, was der Aus­lö­ser war, unter ande­rem die Kunst zu Ihrem Lebens­in­halt zu machen und war­um Sie die­ses The­ma schließ­lich mit in die Kir­che nehmen?

HERMANN GLETTLER: Im Prin­zip ist mein Inter­es­se für die Kunst durch einen Kunst­er­zie­her im Gym­na­si­um, Luis Sam­mer, ein stei­ri­scher Maler, der in der Abs­trak­ti­on zuhau­se ist, geweckt wor­den. Sam­mer hat es geschafft, uns jun­ge Leu­te durch sei­ne Erzäh-lun­gen und Ver­schrän­kun­gen von Kunst und All­tag zu fas­zi­nie­ren. In der sie­ben­ten Klas­se hat er mich für eine expres­si­ve Kreuz­dar­stel­lung sehr gelobt und das war die Initi­al­zün­dung. Ich habe begon­nen Freun­de zu por­trai­tie­ren und selbst Kunst zu pro­du­zie­ren. Wäh­rend mei­nes Theo­lo­gie­stu­di­ums, von dem ich zwei Jah­re auch in Deutsch­land ver­brach­te, war ich zwei Jah­re lang frei­er Hörer bei Pro­fes­sor Rudolf Schoofs in Stutt­gart. Ich habe ihm mei­ne Arbei­ten prä­sen­tiert. Mit ihm konn­te ich über Grund­fra­gen von Male­rei dis­ku­tie­ren, über den Auf-bau von Span­nung und Rhyth­mus in einem abs­trak­ten Bild und über das Ver­mei­den ober­fläch­li­cher Flos­keln. Wie in der Kom­po­si­ti­on von Musik, gibt es auch Gesetz­mä­ßig­kei­ten in der frei­en Male­rei. Zusätz­lich zur Theo­lo­gie habe ich auch Kunst­ge­schich­te stu­diert, abge­schlos­sen mit einer Diplom­ar­beit über den Zeich­ner und Bild­hau­er Wal­ter Pich­ler. Nach eini­gen pro­duk­ti­ven Jah­ren und Aus­stel­lun­gen bin ich Ende der 90er Jah­re mit der Male­rei, die ich auch noch in den ers­ten Jah­ren mei­nes Pries­ter­seins wei­ter­ge­führt habe, in eine Kri­se gekom­men. Die Serie das »Aus­ma­len« war die letz­te Serie bevor ich mich eher dem Kon­zep­tu­el­len genä­hert habe – Foto, Bild­be­ar­bei­tun­gen und Instal­la­tio­nen. Momen­tan bleibt wenig Zeit dafür. Ich rea­li­sie­re etwas, wenn ich eine Ein­la­dung zu einer Aus­stel­lung bekomme.

Wie sind Sie dann vom Künst­ler zur Kunst­ver­mitt­lung gekommen?

HERMANN GLETTLER: Kunst­ver­mitt­lung war mir von Anfang an wich­tig. Ich habe bereits als Stu­dent im Pries­ter­se­mi­nar eine Gale­rie gegrün­det, die Gale­rie 4. Ich woll­te mich und mei­ne Freun­de mit ori­gi­na­len Kunst­wer­ken kon­fron­tie­ren. Durch die­se Aus­stel­lungs­ak­ti­vi­tät kam es zu wun­der­ba­ren Begeg­nun­gen und eini­gen Kon­flik­ten – eini­ge muss­ten ler­nen, etwas ste­hen und gel­ten zu las­sen, was man nicht begreift. Nicht nur für Theo­lo­gen ist dies ein wich­ti­ger Lern­pro­zess. Oft ver­bau­en wir uns den Zugang zu einem neu­en und grö­ße­ren Hori­zont, weil wir unter dem Druck ste­hen, alles begrei­fen zu müs­sen. Als jun­ger Pries­ter habe ich an mei­nem ers­ten Ein­satz­ort, Juden­burg in der Ober­stei­er­mark, Kunst­aus­stel­lun­gen initi­iert. Nicht alle konn­ten mit die­sem star­ken Kunst-Akzent in mei­ner Pfarr­ar­beit etwas anfan­gen. Für mich war jedoch immer klar, dass Glau­be und Kunst zusam­men­ge­hö­ren und sich gegen­sei­tig befruch­ten. Wir müs­sen doch an-sprech­bar, berühr­bar und auch ver­wund­bar blei­ben, nicht wahr? Das kann Kunst leis­ten, sie stellt in Fra­ge. Ab die­ser Zeit war ich auch Mit­glied in der diö­ze­sa­nen Kunst­kom­mis­si­on, die kon­kre­te Auf­trä­ge für Altar­raum- und Kir­chen­um­ge­stal­tun­gen beglei­tet hat. Die Zusam­men­ar­beit mit bedeu­ten­den Künst­lern war dabei wesent­lich. Als ich dann ab 1999 in einem mul­ti­kul­tu­rel­len Vier­tel in Graz Pfar­rer wur­de, ist das Pro­jekt ANDRÄ KUNST ent­stan­den. Es war eine jah­re­lan­ge, kon­se­quen­te Gast­freund­schaft für zeit­ge­nös­si­sche Kunst in einem nor­ma­len Pfarr­be­trieb. Vie­le tem­po­rä­re und auch blei­ben­de Kunst­in­ter­ven­tio­nen wur­den rea­li­siert – u.a. auch 15 zeit­ge­nös­si­sche Glas­fens­ter­ge­stal­tun­gen, die durch ihren kon­zep­tu­el­len Ansatz ein­zig­ar­tig sind. Man kann das unter www.andrae-kunst.org nachschauen.

Bei unse­rer Recher­che haben wir her­aus­ge­fun­den, dass Sie Kunst als ein Lebens­mit­tel für die See­le betrach­ten: stär­kend, trös­tend, pro­vo­zie­rend, ver­wir­rend und sinn­stif­tend zugleich. Sehen Sie dies als Betrach­ter oder wür­den Sie das auch auf Ihren Schaf­fens­pro­zess als Künst­ler beziehen?

HERMANN GLETTLER: Ich bezie­he das vor allem auf die Rezep­ti­on von Kunst­wer­ken. Die Freund­schaft mit Kul­tur­schaf­fen­den hat mich sehr geprägt. Als Stu­dent war ich schon mit eini­gen Künst­lern gut befreun­det. Ich nen­ne stell-ver­tre­tend nur Gus­tav Tro­ger, der letzt­lich auch für die Ent­wick­lung von Andrä-Kunst aus­ge­spro­chen wich­tig war. Natür­lich hat sich die in der Fra­ge erwähn­te Ambi­va­lenz auch auf mei­ne eige­ne Kunst­pro­duk­ti­on aus­ge­wirkt. Es ging mir immer dar­um, Ver­stö­rung zuzu­las­sen, sich auf unbe­kann­tes Ter­rain zu bege­ben, ein­fach Unbe­kann­tes und Frem­des wahr­zu­neh­men. Das hat sich auch auf das sozia­le Enga­ge­ment aus­ge­wirkt, das für eine gesell­schafts-rele­van­te Kir­che in der heu­ti­gen Zeit sehr wich­tig ist.

Bischof Her­mann Glett­ler im rah­men der Aus­stel­lung »GEBT MIR BILDER«, Foto: Diö­ze­se Innsbruck/Gerhard Berger

Kunst ist ein Kata­ly­sa­tor für Begeg­nung und auch für Über­for­de­rung. Man lernt mit ihr etwas ste­hen zu las­sen, das man nicht begreift. 

Kann Ihrer Mei­nung nach die Kunst, die immer schon inte­gra­ti­ver Bestand­teil der Kir­chen war, als grö­ße­res Ver­ständ­nis für die gött­li­che Bestim­mung im Leben begrif­fen werden?

HERMANN GLETTLER: Kunst ist eine Hil­fe, um die Sin­ne zu schär­fen und ein geis­ti­ges Sen­so­ri­um für ein tie­fe­res Ver­ständ­nis von Welt und Leben auf­zu­bau­en – auch für die »gött­li­che Bestim­mung«, wenn Sie das so bezeich­nen möch­ten. Der Hl. Igna­ti­us hat das ver­stan­den. Nicht zufäl­lig gibt er in sei­nen Exer­zi­ti­en die Anwei­sung, dass wir mit allen Sin­nen in das bibli­sche Gesche­hen ein­tau­chen soll­ten. In die­ser Linie steht auch Petrus Cani­sius, der sei­nen Gene­ral in Rom um Bil­der gebe­ten hat. Er woll­te damit sei­ne Glau­bens­un­ter­wei­sun­gen stüt­zen und Men­schen geist­voll prä­gen. Mit Hil­fe der Kunst lässt sich das Geheim­nis von Got­tes Gegen­wart in sei­ner Schöp­fung erah­nen, das berau­schend Schö­ne und auch das Fra­gi­le, Ver­letz­li­che und Vor­läu­fi­ge. Wir müs­sen dafür die See­le wei­ten. Wenn jedoch jemand kei­nen inne­ren Reso­nanz­raum auf­baut, dann kommt ohne­hin kei­ne Musik, kei­ne Lite­ra­tur, kei­ne bil­den­de Kunst an ihn her­an. Daher ist die ästhe­ti­sche Bil­dung in allen Berei­chen so wich­tig. Die direk­te Ver­mitt­lung von Glau­bens­in­hal­ten gelingt mit zeit­ge­nös­si­scher Kunst nur rela­tiv bedingt. Was wir den­noch mit der Aus­stel­lung zum Petrus-Cani­sius Jahr ein­drück­lich bele­gen konn­ten, ist die Tat­sa­che, dass in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst vie­le reli­giö­se Fra­ge­stel­lun­gen vor­kom­men. Nicht zuletzt auch ganz deut­li­che Hin­wei­se auf zen­tra­le katho­li­sche Bild­tra­di­tio­nen – auf die Mensch­wer­dung Got­tes, auf das Kreuz und die Eucha­ris­tie. Wenn sich qua­li­täts­vol­le Künst­le­rin­nen und Künst­ler reli­giö­sen The­men wid­men, dann kommt meist noch ein Plus, eine zusätz­li­che Dimen­si­on ins Spiel. Das gilt auch für die alte Kunst. Ich den­ke an Tin­to­ret­to. Er hat es geschafft, eine mys­ti­sche Dimen­si­on zu ver­mit­teln, wenn bei­spiels­wei­se in eini­gen sei­ner vie­len Abend­mahls­dar­stel­lun­gen der gan­ze Tisch zu schwe­ben beginnt. Er benennt damit Unfass­ba­res im schein­bar Alltäglichen.

In Ihrem Buch »Die frem­de Gestalt« spre­chen Sie sich gegen eine »Ver­kit­schung« von Jesus aus und brin­gen den »unbe­que­men Jesus« ins Spiel. Wie dür­fen wir uns den vor­stel­len? Wel­che Kunst hat Jesus überzeugt?

HERMANN GLETTLER (lacht): Jesus hat­te wohl kei­nen unmit­tel­ba­ren Umgang mit Kunst. Die über­wäl­ti­gen­de Archi­tek­tur und künst­le­risch anspruchs­vol­le Deko­ra­ti­on des jüdi­schen Tem­pels hat er eher kri­tisch gese­hen. Kitsch schleicht sich in der Kunst immer dann ein, wenn das reli­giö­se Gefühl dem Betrach­ter ver­ord­net wird. Kitsch ist eigent­lich Lieb­lo­sig­keit. Nun, die Dar­stel­lun­gen von Jesus brin­gen vie­le Facet­ten. Die ers­ten anti­ken Bild­nach­wei­se zei­gen ihn als jugend­li­chen Hir­ten, ein Spott­graf­fi­ti aus Rom sogar mit einem Esel­s­kopf auf dem Kreuz. Die ältes­te Iko­ne, ein Meis­ter­werk aus dem 6. Jahr-hun­dert im Katha­ri­nen­klos­ter am Sinai, lehnt sich an das übli­che Kai­ser­bild­nis an. Die Iko­ne ver­mit­telt eine unglaub­lich star­ke Prä­senz. Und dann lie­ße sich in der Roma­nik und Gotik eine unend­li­che Lis­te von Chris­tus­bil­dern auf­zäh­len, die alle­samt in ihrer Schön­heit her­aus­for­dern, 100%ig kitsch­frei. Ich erwäh­ne nur den Altar von Mathi­as Grü­ne­wald in Col­mar – der Gekreu­zig­te mit den glei­chen eit­ri­gen Beu­len wie die Kran­ken, denen die­ses Bild gezeigt wur­de. Jesus als der mit­lei­den­de Erlö­ser. Übri­gens auch ein The­ma, das der Tiro­ler Albin Egger Lienz mit sei­nem Auf­er­stan­de­nen in der Gedächt­nis­ka­pel­le in Lienz auf­ge­grif­fen hat. Er hat belas­tet von den grau­en­haf­ten Ereig­nis­sen des Ers­ten Welt­krie­ges nicht den Sieg­rei­chen dar­ge­stellt, son­dern den ver­un­si­cher­ten Chris­tus. Die Kapel­le wur­de des­we­gen gesperrt. Unzäh­li­ge Künst­ler haben sich im Lau­fe der Jahr­hun­der­te mit Jesus, sei­ner Gestalt und Bot­schaft aus­ein­an­der­ge­setzt. Auch Mark Wal­lin­ger, der im Jahr 2000 zum Mil­le­ni­um für den Tra­fal­gar Squa­re in Lon­don eine ECCE HOMO Sta­tue geschaf­fen hat. Ein Kunst­werk von Welt­rang, das jetzt in unse­rem Dom zu besich­ti­gen ist. Er hat sich für die Jesus-Figur ent­schie­den, weil es für ihn aktu­ell nie­man­den gibt, der pein­li­cher und fas­zi­nie­ren­der zu-gleich ist. Mich berührt die­se Auseinandersetzung.

Wie Sie sag­ten, blüh­te die »Ars sacra« zur Zeit von Giot­to, Michel­an­ge­lo und Cara­vag­gio. Die Kunst­schät­ze, die damals ent­stan­den sind, haben heu­te noch Rele­vanz. Musik, bil­den­de Kunst, Lite­ra­tur, Archi­tek­tur, Bild­haue­rei, Medi­en­kunst oder live-Per­for­mance – was kann die Kir­che heu­te umsetzen?

HERMANN GLETTLER: Eini­ges scheint mög­lich zu sein, aber wir haben enor­men Lern­be­darf. Es reicht nicht aus, im kirch­li­chen Bin­nen­raum gefäl­li­ge Kir­chen­kunst zu pro­du­zie­ren. Nur in einer vita­len Aus­ein­an­der­set­zung und Wert­schät­zung gegen­über dem, was heu­te in der zeit­ge­nös­si­schen Kul­tur ver­han­delt wird, kann es wie­der nen­nens­wer­te Neu­schöp­fun­gen geben. Man hat sich zur Schaf­fung sakra­ler Kunst bis her­auf ins 18. Jahr­hun­dert zum Glück immer von dem inspi­rie­ren las­sen, was in der säku­la­ren Kunst Stan­dard war, mehr noch. Durch kirch­lich beauf­trag­te Kunst wur­de der eigent­li­che Qua­li­täts­le­vel vor­ge­ge­ben – den­ken wir an die von Ihnen erwähn­ten Künst­ler der Renais­sance und des Barock. In der sakra­len Archi­tek­tur hat man die Basi­li­ka, also die Markt­hal­le als Vor­bild für den Kir­chen­bau über­nom­men – es war doch der Ort der Ver­samm­lung, der öffent­li­chen Debat­ten, des Kul­tes und der Recht­spre­chung. Das Chris­ten­tum hat­te die Kraft, vie­les auf­zu­grei­fen, zu inte­grie­ren und für die Ver­kün­di­gung des Evan­ge­li­ums ein­zu­set­zen. Die Iko­ne war ursprüng­lich das Kai­ser­bild, also auch kei­ne christ­li­che Erfin­dung. Durch Ver­wer­fung und neue Kon­tex­tua­li­sie­rung ent­wi­ckelt sich im Pro­zess kul­tu­rel­ler Aneig­nung aber immer wie­der Neu­es. Ob wir das auch heu­te noch schaf­fen? Vor­aus­set­zung für einen Dia­log ist gewiss ein demü­ti­ges, aber gesun­des Selbst­be­wusst­sein: Das Evan­ge­li­um Jesu hat eine posi­ti­ve, kul­tur­ver­än­dern­de Kraft in sich.

Sehen Sie sich als Bischof auf­ge­for­dert, Ver­ständ­nis und Auf­klä­rung für die Kunst in der Kir­che zu för­dern? Wie bricht die Kir­che die Hemm­schwel­len der Gläu­bi­gen, wenn es um das The­ma Kunst geht?

HERMANN GLETTLER: Wirk­lich anspruchs­vol­le Kunst wird immer Dis­kus­sio­nen aus­lö­sen. Ja, es braucht auch eine Unter­schei­dung der Geis­ter: Nicht alles was heu­tig pro­du­ziert wird, ist gleich wert­voll. Mein ers­ter Auf­trag als Bischof ist es, das Neue der Bot­schaft Jesu für die heu­ti­ge Zeit zu erschlie­ßen. Da ist vie­les auf­zu­ho­len. Eben­so ist mir ein Dienst für die Ein­heit in Kir­che und Gesell­schaft auf­ge­tra­gen. Außer­dem muss ich dafür sor­gen, dass wir jene, die es schwer haben, nicht über­se­hen. Ich bin nicht Bischof, um die Leu­te zur Kunst zu bekeh­ren. Wenn sich Mög­lich­kei­ten auf­tun, dann set­ze ich mich für zeit­ge­nös­si­sche Gestal­tun­gen ein. Wenn dadurch auch ver­mit­telt wer­den kann, dass in der Kir­che alle gro­ßen The­men zwi­schen Him­mel und Erde Platz haben, auch die nicht-from­men, dann stellt sich ein Mehr­wert ein. Aber ich möch­te Kunst im Kon­text von Kir­che ihre Auto­no­mie belas­sen, sie nicht verzwecken.

Michel Abdol­lahi, DER SCHWAMM 4.0, 2021, Skulp­tur im öffent­li­chen Raum vor der Jesui­ten­kir­che Inns­bruck, Grö­ße: 180 x 240 x 360 cm, Schaum­stoff, Block­wa­re. Von li Dr. Hubert Sal­den, Bischof Her­mann Glett­ler und Rek­tor Dr. Chris­ti­an Mar­te SJ.

Spi­ri­tua­li­tät heißt das Geheim­nis­vol­le wahr­zu­neh­men, sich auf den Weg zu machen, ansprech­bar zu blei­ben, sich auch in Fra­ge stel­len zu las­sen, ver­wund­bar zu werden. 

Ist bei allen Schät­zen, wel­che die Kir­chen in Öster­reich und in Euro­pa zu bie­ten haben, noch Platz für Neues?

HERMANN GLETTLER: Gera­de in Tirol haben wir vie­le wun­der­schö­ne, mit vie­len The­men und Moti­ven auf­ge­la­de­ne baro­cke Kir­chen – aber kaum jemand kann die­se Bot­schaf­ten lesen, geschwei­ge denn ver­ste­hen. Alte Kunst im Kir­chen­raum wird oft ledig­lich wie eine ver­trau­te Tape­te wahr­ge­nom­men, kaum ein Dia­log. Durch das Zulas­sen von Gegen­warts­kunst kann der Blick und das Gefühl dafür wie­der geschärft wer­den. Die­sen posi­ti­ven Effekt ken­ne ich von Graz St. Andrä. Durch die zeit­ge­nös­si­schen Inter­ven­tio­nen ist das Bewusst­sein für das Vor­han­de­ne wach gewor­den. Plötz­lich stan­den ein neu­es Glas­fens­ter des Tiro­ler Künst­lers Lois Wein­ber­ger und ein Jesu-Namen-Altar aus dem 18. Jahr­hun­dert mit­ein­an­der im Dia­log. Im Fens­ter stand Oh Mein Gott!. Das hat sich gegen­sei­tig sen­sa­tio­nell befruchtet.

Wir haben es schon ein­gangs erwähnt: Das Jahr 2021 ist Ihrem Diö­ze­san­pa­tron Petrus Cani­sius in Tirol gewid­met, wel­ches als 500-Jah­re-Jubi­lä­um gefei­ert wird. Für die­ses Aus­stel­lungs­pro­jekt ist auch der Kel­ler­raum des Bischofs­hau­ses reno­viert wor­den. Wel­che Bedeu­tung hat für Sie das Kreuz­ge­mäl­de von Guil­laume Bruè­re, das dort hängt?

HERMANN GLETTLER: Es ist rich­tig gut. Das abs­trak­te Kreuz ist ver­bun­den mit den ver­wun­de­ten Hän­den, Füßen und mit dem durch­bohr­ten Her­zen Jesu. Der fran­zö­si­sche Künst­ler ist ohne eine reli­giö­se Bil­dung auf­ge­wach­sen und erst durch die Beschäf­ti­gung mit Kunst auf das Chris­ten­tum gesto­ßen. Durch sei­ne Nach­for­schun­gen in den Muse­en ist er mit den christ­li­chen The­men immer inten­si­ver in Berüh­rung gekom­men. In sei­ner Fas­zi­na­ti­on ver­sucht er dar­auf zu ant­wor­ten. Die Herz-Jesu-Iko­no­gra­phie ist ja nicht unpro­ble­ma­tisch – los­ge­löst aus der Ver­kit­schung hät­te sie gro­ßes Poten­ti­al für heu­te. Wir brau­chen doch eine zeit­ge­mä­ße Herz-Spi­ri­tua­li­tät. Gott hat Herz gezeigt!

Würde Sie das per­sön­lich stö­ren, wenn aus­ge­wähl­te Künst­ler an Ihrem Pro­jekt »Gebt mir Bil­der« Zwei­fel am katho­li­schen Glau­ben äußern oder gar einer ande­ren Glau­bens­rich­tung angehören?

HERMANN GLETTLER: Nein, kei­nes­wegs. Zunächst ist es so, dass vie­le Künst­le­rin­nen und Künst­ler es schät­zen, für einen Bei­trag in der Kir­che ange­fragt zu wer­den. Vie­le haben eine spi­ri­tu­el­le Sen­si­bi­li­tät und das Wis­sen dar­über, dass eine Kir­che kein neu­tra­ler Raum ist. Dar­in sei­ne eige­ne Arbeit zu set­zen, ergibt eine ganz ande­re Aura, eine ande­re Strahl­kraft. Wir haben einen mus­li­mi­schen Künst­ler dabei, Michel Abdol­lahi, der für den Vor­platz der Jesui­ten­kir­che einen gro­ßen Schwamm gestal­tet hat. Lei­der muss­ten wir das Werk ent­fer­nen, weil es von Pas­san­ten zer­stört wur­de. Abdol­lahi steht in sei­nem Umfeld offen­sicht­lich zu sei­nem Glau­ben. Das löst schon eini­ge Irri­ta­tio­nen aus. SUSI POP, ein Künst­ler­kol­lek­tiv aus Ber­lin, hat ver­mut­lich mit Kir­che auch nicht viel am Hut und sie arbei­ten den­noch mit eini­gen Vor­la­gen, die aus dem christ­li­chen Welt- und Got­tes­ver­ständ­nis stammen.

Was möch­ten Sie mit die­sem Pro­jekt lang­fris­tig und nach­hal­tig zum Aus­druck brin­gen und was erwar­ten Sie sich von Men­schen und den Künst­lern, die Ihre Wer­ke in der Kir­che zeigen?

HERMANN GLETTLER: Die Jesui­ten­kir­che in Hall ist für die Som­mer­mo­na­te ein höchst spi­ri­tu­el­ler Kunst-Schau­raum gewor­den. Sie wur­de schon jah­re­lang kaum mehr als Kir­che genützt. Die ande­ren sind als Kir­chen in Betrieb und es han­delt sich nur um tem­po­rä­re Inter­ven­tio­nen. Ich bin dem Kura­tor der Aus­stel­lung, Dr. Hubert Sal­den dank­bar, weil er dar­auf geach­tet hat, dass in den Got­tes­häu­sern die vor­han­de­ne Bild-Aus­stat­tung nicht ver­drängt oder über­spielt, son­dern in ihrer Bedeu­tung mit­ge­dacht wird. Die Ecce-Homo Skulp­tur von Wal­lin­ger bei­spiels­wei­se steht da wie ein Kir­chen­be­su­cher, sie ist bewusst auf den Altar gerich­tet. Wir möch­ten mit der Aus­stel­lung die The­men, die Petrus Cani­sius im 16. Jahr­hun­dert umge­trie­ben haben, in ihrer Aktua­li­tät bewusst machen: Die Fra­ge nach dem, was trägt; die Bedeu­tung Jesu; Hal­tun­gen in Kri­sen­zei­ten; Umgang mit Schuld und Ver­sa­gen; Fra­ge nach Ver­söh­nung und Gerech­tig­keit in einer belas­te­ten Zeit; u.v.m. Wir möch­ten vie­le Men­schen dazu ver­lei­ten, in die­se The­men ein­zu­tau­chen und sich auf einen per­sön­li­chen Weg ein­zu­las­sen. Stoff gibt es dazu genug, vie­le star­ke Bild­wer­ke, an denen man sich auf­rich­ten und neu aus­rich­ten kann


Vie­len Dank für die­ses auf­schluss­rei­che und vor allem berei­chern­de Gespräch. Wir wün­schen Ihnen wei­ter­hin viel Erfolg beim Schaf­fen die­ser bewun­derns­wer­ten Resonanzräume.

Das Inter­view ist in der Print­aus­ga­be BEYOND BORDERS 3.21 erschienen.

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