Kunst, Politik und Leben sind eng miteinander verwoben bei León Ferrari (1920–2013)
Es ist viel mehr als eine Werkschau, wie wir sie aus Museen und Galerien kennen: Noch bis zum 25. September 2021 wird in der Galerie neurotitan (Schwarzenberg e.V.) eine Kooperation mit der Fundación Augusto y León Ferrari – Arte y Acervo (FALFFAA) realisiert, die León Ferraris Werke durch die Partizipation der Besucher aufleben lässt. Wie ein Open Studio und lebendiges Archiv aktiviert der Ausstellungsraum – erstmalig in einem nicht-musealen, nicht-kommerziellen Kontext – das Atelier Ferraris. Der Ausstellungstitel gibt uns einen Hinweis auf die Einladung der Kuratorinnen …
León Ferrari gilt heute als einer der bedeutendsten Künstler Lateinamerikas des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Werke des argentinischen Konzeptkünstlers werden weltweit von renommierten Museen wie dem Museum of Modern Art (MoMA) NYC, die Casa de las Americas in Havanna, die Daros Latinamerica Collection in Zürich und das Centre Pompidou in Paris gesammelt und ausgestellt. Bekannt wurde León Ferrari durch seine vehement machtkritischen Bildstrategien, die unaufhörlich die herrschaftlichen Machtstrukturen der Kirche und der Diktatur in Argentinien adressierten. Hierzu ist Ferraris Assemblage “La civilización occidental y cristiana” (Die westliche christliche Zivilisation) aus dem Jahr 1965 wohl das bekannteste, das als Antwort auf den Vietnamkrieg entstand und den auf einem US-Bomber gekreuzigten Christus darstellt. Das Werk wurde 2007 auf der Biennale di Venezia gezeigt (Auszeichnung Goldener Löwe für sein Lebenswerk) und sorgte 2020 im Madrider Nationalmuseum für Moderne Kunst, Reina Sofía, abermals für Proteste.
In der Berliner Ausstellung der Galerie neurotitan werden derzeit Schlüsselwerke von León Ferrari neben unbekannteren, bisher noch nicht in Deutschland gezeigten Arbeiten präsentiert. Der Fokus der Kuratorinnen der Ausstellung, Annika Hirsekorn & Paloma Gabriela Zamorano Ferrari (Enkelin von León Ferrari), richtet sich vor allem auf Originale und lizensierte Reproduktionen der Werkserien Heliografias (Heliographien), Brailles, Esculturas Sonoras (Klangskulpturen), Nunca Más (Niemals wieder), Electronicartes und kleinere Objekte, welche das Kunstverständnis León Ferraris auffächern.
Kunst, Politik und Leben sind eng miteinander verwoben bei León Ferrari (1920–2013)
Von Beruf Ingenieur experimentierte er mit den Strukturen und Wirkweisen verschiedenster Materialien wie Keramik und Drucktechniken, Gips und Zement, Holz und Draht, Pigmenten und Tinten, und entwickelte daraus seine Werke. Auch die Collage oder Bildmontage ist eine kontinuierliche Technik im Œuvre Ferraris, denn es ermöglichte ihm ein Denken in Bildern. Damit überbrückt der Künstler zuweilen auch den Abgrund zwischen der Propaganda in den Medien und seinem Unverständnis gegenüber der diktatorischen Machtausübung in Argentinien. León Ferrari hat immer wieder Wege gefunden, seine Sprachlosigkeit zu visualisieren. Deshalb ist seine Arbeit auch heute noch so wichtig.
In den 1960er-Jahren war Ferrari eine Schlüsselfigur unter den Avantgarde-Künstlern: Er gehörte neben Juan Pablo Renzi, Pablo Súarez, Roberto Jacoby, Luis Felipe Noé und Jorge de la Vega zum Kreis des Instituto Di Tella (bis es von der argentinischen Militärregierung nach erbittertem Kampf 1970 geschlossen wurde). Diese Neo-Avantgarde-Bewegung im Argentinien der 1960er- und 1970er-Jahre verwob unmittelbar politische Botschaften mit ihrer konzeptuellen Kunstpraxis und wirkt bis heute nach.
Nach dem das Militär in Argentinien die Herrschaft übernahm, lebte Ferrari von 1976 bis 1991 im Exil in São Paulo (Brasilien). Dort realisierte er großformatige Skulpturen, aber vor allem entwickelte er die Serien seiner Arbeiten mit Gravüren, Fotokopien und Heliographien. Seine Auseinandersetzungen mit Formen von politischer oder religiöser Macht trieben ihn an und führten ihn immer wieder zu einer leidenschaftlichen Verteidigung der Menschenrechte. Kunst als Politik – für Ferrari ging es nicht anders, wie seinem Aufsatz 1968 „Kunst der Bedeutungen“ („Arte de los significados“) zu entnehmen ist.
Kunst lesen können, trotzdem man sie nicht sehen kann: Arbeiten mit Braille-Schrift
Für die Ausstellung werden ausgewählte Arbeiten der Serie „Brailles“ reproduziert und gezeigt. Die Ausstellung von Reproduktionen erlaubt es insbesondere den blinden und sehbeeinträchtigten Besuchern der Ausstellung, die Werke anzufassen und so zu lesen.
Die Mega-City
In São Paulo begann Ferrari mit den graphischen Arbeiten der Heliografías (Heliographien), in denen er die aus der Architektur bekannte Drucktechnik der Blaupause anwandte. Darunter entstand die Serie The Architecture of Madness (Die Architektur des Wahnsinns), von der ausgewählte Originale in der Ausstellung zu sehen sind. Viele Großstädter können die Zeichnungen emotional gut nachvollziehen … Vorherrschende Anonymität bei starker Strukturierung des alltäglichen Lebens, ewig gleichförmige Bewegungen der Menschen und Fahrzeuge, das Gefühl der Einengung, des Gefangenseins.
Ferrari legte die Auflage dieser Werke als unendlich fest und kennzeichnete sie dementsprechend mit x / ∞. Die an Stadtpläne oder geografische Muster erinnernden Zeichnungen kombinierte er mit Letraset-Symbolen, die ursprünglich in architektonischen Plänen verwendet wurden. Menschen, Bäume, Autos oder leere Betten bilden Muster, die bei genauerem Hinsehen paradoxe Situationen inszenieren; Menschen, die sich anstellen, um leere Räume zu betreten, oder in kleinen Kabinen eingeschlossen sind, unendliche Autospiralen und Stadtlandschaften, die nur aus Sackgassen zu bestehen scheinen.
Am 11. Und 12. September können Besucher der Ausstellung eigene (emotionale) Stadtkarten, die den Wahnsinn des alltäglichen Lebens offenlegen, gestalten – im Workshop Kritisches Kartieren (Anmeldung programm@neurotitan.de).
Das Thema „Gewaltsames Verschwindenlassen“ und der Werkzyklus NUNCA MÁS (Niemals wieder)
In Deutschland ist das Thema Gewaltsames Verschwindenlassen ein bisher unzureichend behandeltes Menschenrechtsverbrechen. Viele Länder sind betroffen. In Argentinien kam es in den Jahren der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) zu einem massenhaften gewaltsamen Verschwindenlassen innerhalb der Zivilbevölkerung, dessen Opfer auch der Sohn León Ferraris wurde.
Einer der Werkzyklen in der Ausstellung weist besonders auf das politische Anliegen der Kunst León Ferraris hin: die collagierten Arbeiten, welche Ferrari für den Bericht Nunca Más 1995 anfertigte.
„Der Bericht dokumentiert auf über 50.000 Seiten die Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktatur. Er wurde 1984 unter dem Titel Nunca Más (Niemals wieder) veröffentlicht. 1996 wurde er von den Zeitungen Página/12 und Eudeba Publishers in dreißig Wochenausgaben nachgedruckt. Am 30. August wurde im Rahmen unserer Ausstellung der Internationale Tag des gewaltsamen Verschwindenlassens in einer öffentlichen Veranstaltung der Galerie neurotitan konkret besprochen, die (re-)produzierten Drucke der Besucher*innen aus den Workshops am 28. und 29. August 2021 präsentiert und ein riesiges Wandbild entstand im Außenbereich in Zusammenarbeit mit dem Kollektiv Orangotango und der Koalition gegen Verschwindenlassen.“ (Kuratorin Annika Hirsekorn)