Natalia LL – Ein Porträt

Unter dem Hash­tag Bana­na­Ga­te ver­brei­te­ten sich im April 2019 in den sozia­len Netz­wer­ken rasant Bil­der von Men­schen, die im Rah­men einer Demons­tra­ti­on in War­schau Bana­nen ver­zehr­ten. Anlass war die Ent­fer­nung eines Kunst­werks von Nata­lia LL, ‚Con­su­mer Art‘ von 1972, aus der per­ma­nen­ten Schau­samm­lung des Natio­nal­mu­se­ums in War­schau. Der neu beru­fe­ne Lei­ter des Muse­ums Jer­zy Mizio­lek befand, dass das Video jun­gen Men­schen scha­den kön­ne. Für die Pro­tes­tie­ren­den han­del­te sich um einen kla­ren Fall von Zen­sur in dem von der natio­na­len PIS-Par­tei regier­ten Land. Dass die Bil­der über 40 Jah­re nach ihrer Ent­ste­hung noch einen Stein des Ansto­ßes lie­fern, spricht Bän­de: Über den Zustand einer Gesell­schaft und die Qua­li­tät der Kunst.

Tat­säch­lich han­delt es sich bei ‚Con­su­mer Art‘ (1972–1975) um eine Rei­he von foto­gra­phi­schen Wer­ken und Vide­os, in der jun­ge Frau­en las­ziv und genuss­voll Würst­chen, Bana­nen, Salz­stan­gen, Pud­ding und ande­re expli­zi­te Nah­rungs­mit­tel ver­schlin­gen. Auf sub­ti­le und humor­vol­le Wei­se wer­den The­men der Lust, Ero­tik und der Selbst­be­stim­mung der Frau, die nicht als pas­si­ves Objekt män­ner­do­mi­nier­ter Fan­ta­sien dar­ge­stellt wird, mit Kon­su­mis­mus in einem Land hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang ver­bun­den. In Polen herrsch­te damals aku­te Man­gel­wirt­schaft. Würst­chen lie­ßen sich nur sel­ten nach lan­gem und mühe­vol­lem Anste­hen erwer­ben und Bana­nen waren als exo­ti­sche Frucht ein Sehn­suchts­ob­jekt, das uner­reich­bar schien. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass das Werk auf bei­den Sei­ten des Eiser­nen Vor­hangs mit unter­schied­li­chen Kon­no­ta­tio­nen gele­sen wur­de und unab­hän­gig davon sei­ne Wir­kung und Kraft ent­fal­ten konnte.

Con­su­mer Art‘ wur­de zu einem der iko­ni­schen Bil­der femi­nis­ti­scher Kunst und ver­brei­te­te sich schnell über die Gren­zen Polens hin­aus. Im Jahr 1975, anläss­lich des von der UNO aus­ge­ru­fe­nen Inter­na­tio­na­len Welt­frau­en­ta­ges, dien­te es als Cover des Kunst­ma­ga­zins heu­te Kunst (Nr. 9, 1975) und 1976 als Cover der ita­lie­ni­schen Kunst­zeit­schrift Flash Art.

Die Urhe­be­rin Nata­lia LL avan­cier­te damit früh zu einer der Pio­nie­rin­nen der femi­nis­ti­schen Kunst. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem weib­li­chen Kör­per und der Bruch mit klas­sisch tra­dier­ten Geschlech­ter­rol­len bescher­ten der Künst­le­rin inter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit, Ein­la­dun­gen zu Grup­pen­aus­stel­lun­gen jen­seits des Eiser­nen Vor­han­ges und Rei­sen nach Euro­pa und in die USA. Bereits Mit­te der 70er Jah­re wur­de sie von Lucy Lip­pard kon­tak­tiert und ein­ge­la­den, die ost­eu­ro­päi­sche Agen­tin der femi­nis­ti­schen Bewe­gung zu wer­den. In der Fol­ge orga­ni­sier­te LL im April 1978 in der Jat­ki Gale­rie in Wro­claw die ers­te Aus­stel­lung femi­nis­ti­scher Kunst mit inter­na­tio­na­ler Betei­li­gung in Polen und prä­sen­tier­te Wer­ke von Suzy Lake (Kana­da), Noe­mi Mai­dan (Schweiz), Nata­lia LL (Polen) und der von ihr sehr geschätz­ten Caro­lee Schnee­mann (USA).

Nata­lia LL, Con­su­mer Art, 1974 © Cour­te­sy the artist and gal­lery Lokal_30

Art for me is a way of life, an incre­di­ble vita­li­ty, a place whe­re all year­nings and dreams meet in order to touch, through expe­ri­ence, that which is important. Does art illu­mi­na­te mys­tery? No, it rather points towards mystery

Trotz des Anse­hens, das ihr vor allem von inter­na­tio­na­ler Sei­te ent­ge­gen­ge­bracht wur­de, ist das Werk Nata­lia LL‘s in sei­ner gesam­ten Band­brei­te wenig rezi­piert. Die Aus­stel­lung im Fran­cis­co Caro­li­num in Linz ‚The mys­te­rious world – Nata­lia LL‘ vom 14.04. bis 26.09.2021 bie­tet einen Ein­blick in ihr künst­le­ri­sches Schaf­fen der letz­ten fünf Jahr­zehn­te. Aus­ge­hend von Arbei­ten aus den 60er Jah­ren wer­den auch weni­ger bekann­te Werk­grup­pen prä­sen­tiert, die ihre künst­le­ri­sche Ent­wick­lung doku­men­tie­ren. Das Oeu­vre über­rascht in sei­ner Viel­fäl­tig­keit. Im Zen­trum steht die Sehn­sucht nach Frei­heit. Die Künst­le­rin selbst for­mu­liert es in ihrem Text ‚Art and Free­dom‘, 1987 fol­gen­der­ma­ßen: „Kunst ist Suche nach Frei­heit. Frei­heit ist ein Ziel für sich. Kunst ist ein Mit­tel zu die­sem Zweck.“ („Art is search for free­dom. Free­dom is an end in its­elf. Art is a means to this end.“)

Nata­lia Lach-Lacho­wicz wur­de 1937 in Żywiec, Polen, gebo­ren und stu­dier­te von 1957 bis 1963 an der Aka­de­mie der Bil­den­den Küns­te in Wro­claw Gra­fik, Male­rei und Glas­ge­stal­tung. In Wro­claw lern­te sie auch ihren Mann, den Künst­ler Andrzej Lacho­wicz, ken­nen und gab sich selbst das Pseud­onym, unter dem sie fort­an arbei­ten soll­te: Nata­lia LL. Noch wäh­rend ihres Stu­di­ums wand­te sie sich dem Medi­um der Foto­gra­fie zu – zur dama­li­gen Zeit in Polen ein unge­wöhn­li­cher Schritt. Die Foto­gra­fie eröff­ne­te ihr neue Mög­lich­kei­ten, ins­be­son­de­re die Ver­wand­lung des bana­len All­tags in etwas Beson­de­res, ein mys­te­riö­ses Moment: „Kunst ver­wirk­licht sich in jedem Moment der Rea­li­tät. Jedes Ereig­nis, jede Sekun­de ist für den Ein­zel­nen ein­zig­ar­tig und kann nie­mals wie­der­holt wer­den. Aus die­sem Grund zeich­ne ich häu­fi­ge und tri­via­le Ereig­nis­se wie Essen, Schla­fen, Kopu­la­ti­on, Aus­ru­hen, Spre­chen usw. auf.“ („Art rea­li­ses its­elf in every moment of rea­li­ty. Every event, every second, is sin­gu­lar for the indi­vi­du­al and can never be repea­ted. This is why I record com­mon and tri­vi­al events such as eating, slee­ping, copu­la­ti­on, res­t­ing, spea­king, and so on…”) (Trans­for­ma­ti­ve Atti­tu­de, 4. Novem­ber 1972)

Die ers­ten Arbei­ten Anfang der 60er Jah­re sind groß­for­ma­ti­ge Nah­auf­nah­men von Gesich­tern aus ihrem Freun­des- und Bekann­ten­kreis. ‚Body Topo­lo­gy‘ von 1967 zeigt die Künst­le­rin und ihren Mann nackt in Fron­tal- und Rücken­an­sich­ten. Der Weg die­ser Kar­to­gra­fien von Gesich­tern und Kör­pern zur Serie ‚Inti­ma­te Pho­to­gra­phy‘, in der sie sich selbst mit ihrem Ehe­mann sowie befreun­de­ten Paa­ren beim sexu­el­len Akt doku­men­tiert, ist nur ein klei­ner. Im Bewusst­sein der Pro­vo­ka­ti­on, die die­se Dar­stel­lun­gen in der Öffent­lich­keit aus­lö­sen wür­den, prä­sen­tier­te sie die Serie, die bereits 1968/69 ent­stan­den war, erst 1971 in der Künst­ler­ga­le­rie Per­ma­fo in Wro­clav. Die Prä­sen­ta­ti­on erfolg­te in Form einer Box, deren Außen­wän­de mit ihrem Por­trät tape­ziert waren und innen Kör­per von Paa­ren beim Geschlechts­akt zeig­ten. Nur vier­und­zwan­zig Stun­den spä­ter wur­de die Aus­stel­lung durch die Zen­sur verboten.

Der Man­gel an Aus­stel­lungs­mög­lich­kei­ten inner­halb des offi­zi­el­len Kunst­sys­tems ver­an­lass­te die Künst­ler Nata­lia LL, Andrzei Lacho­wicz, Zbi­gniew Dłu­bak und den Kunst­kri­ti­ker Anto­ni Dzie­dus­zy­cki 1970 zur Grün­dung der Gale­rie Per­ma­fo in Wro­clav. Mit die­sem Schritt tru­gen sie wesent­lich dazu bei, den Weg für die Kon­zept­kunst in Polen zu ebnen und den neu­en Medi­en, Foto­gra­fie, Film und Per­for­mance einen Stel­len­wert ein­zu­räu­men. Der Name des Kunst­rau­mes, Per­ma­fo, der mit den Wor­ten ‚per­ma­nent­na foto­gra­fia / per­ma­nen­te Foto­gra­fie‘ oder ‚per­ma­nen­te For­ma­li­sie­rung‘ spiel­te, war Pro­gramm. Die Ent­ste­hung die­ser expe­ri­men­tel­len Kunst­räu­me wur­de damals in Polen von den Macht­in­ha­bern tole­riert. Vor allem in der Zeit von 1956 bis 1981 fand im Gegen­satz zu ande­ren Län­dern im ehe­ma­li­gen Ost­block ein regel­rech­ter Kunst­boom statt. Der Stil des sozia­lis­ti­schen Rea­lis­mus woll­te sich nie so rich­tig durch­set­zen und Polen konn­te an die Tra­di­ti­on der Avant­gar­de anknüp­fen. Die­ser Auf­schwung der Küns­te und die damit ein­her­ge­hen­de rela­ti­ve Frei­heit fand jedoch mit der Ver­hän­gung des Kriegs­rechts im Dezem­ber 1981 ein jähes Ende. Das war auch der Moment, in dem die Gale­rie Per­ma­fo, die der Künst­ler­grup­pe über ein Jahr­zehnt eine Platt­form für gedank­li­chen Aus­tausch und der Prä­sen­ta­ti­on der eige­nen sowie der Wer­ke befreun­de­ter Künst­le­rin­nen und Künst­ler aus dem In- und Aus­land bot, ihre Tore schloss. Die Ära der Per­fa­mo Gale­rie mar­kiert für Nata­lia LL auch eine der pro­duk­tivs­ten Pha­sen ihres künst­le­ri­schen Wirkens.

Wäh­rend die frü­hen foto­gra­fi­schen Arbei­ten einen objek­ti­ven metho­di­schen Blick auf Kör­per und All­tag wer­fen und in ihrer seri­el­len Form­ge­bung Ver­suchs­an­ord­nun­gen zur Schaf­fung einer neu­en Gram­ma­tik und Seman­tik dar­stel­len, lässt Nata­lia LL nach und nach das Unbe­wuss­te und Unter­be­wusst­sein in ihr Werk. Es ent­ste­hen zahl­rei­che Per­for­man­ces, wie zum Bei­spiel ‚Dre­a­ming‘, 1978, in denen LL sich selbst und ande­re Frau­en, im Schlaf doku­men­tiert und damit eine Welt erforscht, die sich der Ord­nung und Logik ent­zieht. Sie prä­sen­tiert sich sowohl nackt als auch in einem wei­ßen Kleid, das an ein Pries­ter- oder Scha­ma­nen­ge­wand erin­nert. Die­se Séan­cen, wie die Künst­le­rin sie nennt, wei­sen einen nahe­zu spi­ri­tu­el­len, ritu­el­len Cha­rak­ter auf. 

Points of sup­port‘ aus dem­sel­ben Jahr zeugt vom Wunsch der Künst­le­rin, ihre Posi­ti­on inner­halb eines Koor­di­na­ten­sys­tems, das die Welt – das Uni­ver­sum – ist, zu erfor­schen. Im Bewusst­sein sei­ner phy­si­schen Gren­zen nützt sie ihren Kör­per als Medi­um und stellt auf einer Wie­se des Natio­nal­parks Pien­i­ny 18 unter­schied­li­che Ster­nen­kon­stel­la­tio­nen nach. Sie strebt nach der Ver­bin­dung von Mikro- und Makro­kos­mos. Die Dyp­ti­chen bestehen jeweils aus der Ster­nen­kon­stel­la­ti­on auf der einen Sei­te und der ent­spre­chen­den per­for­ma­ti­ven Umset­zung auf der ande­ren Seite.

Die 80er Jah­re sind durch eine Rück­kehr zu male­ri­schen Ele­men­ten gekenn­zeich­net, die Nata­lia LL mit der Foto­gra­fie kom­bi­niert. Neben der Serie ‚Des­truc­tion‘ von 1988, Fotos ihres eige­nen Ant­lit­zes, das sich auf­zu­lö­sen scheint, ent­steht die Werk­grup­pe ‚Pani­cky Ter­ror‘, 1989, mit Über­ma­lun­gen ihres Gesichts. Unter ande­rem inspi­riert durch die Schrif­ten des hei­li­gen Johan­nes vom Kreuz und der hei­li­gen Tere­sa von Avila, fin­den ver­mehrt The­men der Mys­tik Ein­gang in ihre Arbei­ten. Es sind Wer­ke, die den phy­si­schen kör­per­li­chen Ver­fall und die eige­ne Ver­letz­lich­keit thematisieren

Par­al­lel dazu ent­wi­ckelt die Künst­le­rin Arbei­ten, die mytho­lo­gi­sche Bezü­ge auf­wei­sen. Dar­un­ter die Foto­se­rie ‚Trans­fi­gu­ra­ti­on of Odin‘, 2009, die aus star­ken, thea­tra­li­schen Bil­dern von Macht, Glanz und Ver­gäng­lich­keit besteht. Man sieht Odin, den Haupt­gott der ger­ma­ni­schen Mytho­lo­gie, Gott des Krie­ges, aber auch der Magie und Eksta­se in zwei Vari­an­ten: Als altern­den Mann (ihr Ehe­mann Andrzej Lacho­wicz) und als Jüng­ling. Dazwi­schen thront Brun­hil­de, bewaff­net mit einem Schild und einem Zep­ter, das auch ein Geh­stock sein könn­te. Die Dar­stel­le­rin ist uns wohl­be­kannt – es ist Nata­lia LL. Wie ein roter Faden zieht sich die phy­si­sche Prä­senz der Künst­le­rin durch ihr gesam­tes, facet­ten­rei­ches Werk.

Doch wie lässt sich die­ses man­nig­fal­ti­ge Oeu­vre, in dem sich All­tag, Ratio­na­les, Eros, Ver­lan­gen, Wün­sche, Fan­ta­sie, Irra­tio­na­les und Tran­szen­den­ta­les wie­der­fin­den, am bes­ten ver­bin­den? Den Schlüs­sel zur Kunst Nata­lia LL’s gibt sie selbst in einem 2001/2002 geführ­ten Inter­view mit Kryst­zof Jure­cki: „Kunst ist für mich eine Lebens­wei­se, eine unglaub­li­che Vita­li­tät, ein Ort, an dem sich alle Sehn­süch­te und Träu­me tref­fen, um durch Erfah­rung das zu berüh­ren, was wich­tig ist. Erleuch­tet Kunst das Mys­te­ri­um? Nein, sie deu­tet eher auf das Mys­te­ri­um hin.”

(„Art for me is a way of life, an incre­di­ble vita­li­ty, a place whe­re all year­nings and dreams meet in order to touch, through expe­ri­ence, that which is important. Does art illu­mi­na­te mys­tery? No, it rather points towards mystery.”)

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Sie ist Kuratorin und berät Kunstsammlungen. Gemeinsam mit Rainald Schumacher gründete sie 2010 Office for Art in Berlin. Zuvor war sie an der Bundeskunsthalle in Bonn und am Belvedere in Wien tätig. In den letzten Jahren entwickelte sie einen Schwerpunkt für zeitgenössische Kunst aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

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