Die Freiheit der Kunst im Widerstreit mit dem Persönlichkeitsrecht. An dieser Stelle (Kaleidoscope/ stayinart 2.16) wurde schon einmal über die Freiheit der Kunst geschrieben, wobei es damals um die Definition des Begriffes „Kunst“ und die Grenzen der künstlerischen Freiheit ging. Diese Freiheit endet dort, wo sie unverhältnismäßig in die Rechte Dritter eingreift. Zu diesen Rechten Dritter gehören vor allem die Persönlichkeitsrechte, und hier besonders die Menschenwürde. Greift die Ausübung von Kunst in diese Rechte ein, bedarf es einer Abwägung, welchem Recht der Vorzug zu geben ist – dem Recht auf künstlerische Freiheit oder dem Persönlichkeitsrecht.
Vor etwas mehr als einem Jahr musste sich das deutsche Bundesverfassungsgericht mit einem derartigen Fall beschäftigen. Eine freischaffende Künstlerin malte im Jahr 2010 ein Mädchen mit kurzen Haaren und einem Verband um den Arm. Die Künstlerin nannte das Bild „Rapunzel 4“. Die Eltern und das Mädchen hatten der Anfertigung des Porträts zugestimmt.
Drei Jahre später wurde das Bild in einer Kunstausstellung mit dem Titel „Märchenbilder“ gezeigt. Der Veranstalter druckte einen Flyer mit einer kurzen Einleitung zur Ausstellung und den dort gezeigten Bildern der Künstlerin. Darin wünschte er sich „eine sachgerechte und sensible Auseinandersetzung mit ihren Werken und den darin aufgegriffenen Themen von Missbrauch, Gewalt, Verlassenheit und Sehnsucht“. In der Folge erschien zur Ausstellung auch ein journalistischer Artikel mit dem Bild des Mädchens und der Erklärung, Gegenstand der Ausstellung seien „16 Gemälde der Künstlerin, die den Themen Missbrauch und Gewalt an Kindern gewidmet sind“. Kurze Zeit später widerriefen die Eltern des Mädchens die Einwilligung, das Portrait ihrer minderjährigen Tochter mit dem Titel „Rapunzel 4“ öffentlich auszustellen. Das Mädchen und die Familie seien durch die Ausstellung in den Nahbereich von Gewalt und Missbrauch gerückt worden.
Es kam schlussendlich zu einer Klage des Mädchens gegen die Künstlerin, da letztere auf weiteren Veröffentlichungen beharrte. Sowohl das zuständige Amtsgericht als auch das Landgericht Halle gaben dem Mädchen Recht und untersagten der Künstlerin, das Porträt in welcher Form auch immer „jeglichen Dritten gegenüber öffentlich zu machen oder zu verbreiten“. Die Künstlerin musste das Bild auch von ihrer Homepage entfernen. Die Gerichte waren der Ansicht, dass das Recht auf persönliche Würde des Mädchens gegenüber der Kunstfreiheit überwog und deshalb ein wichtiger Grund für den Widerruf der ursprünglich erteilten Zustimmung zur Veröffentlichung des Bildes vorlag.
Dagegen erhob die Künstlerin Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht, weil sie sich in ihrem Recht auf die Freiheit der Kunst verletzt sah. Die Kunstfreiheit ist ein verfassungsmäßig geschütztes Grundrecht. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 deutsches Grundgesetz (GG) formuliert es so: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Ähnliches bestimmt auch Art. 17a österreichisches Staatsgrundgesetz.
Aber auch Persönlichkeitsrechte sind durch die Verfassung garantiert. Art 1 Abs. 1 GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diese beiden Grundrechte standen sich hier gegenüber, nämlich einerseits das Recht der Künstlerin, ihre Werke auszustellen, und andererseits die Würde und Persönlichkeit des Mädchens. Das Bundesverfassungsgericht wog in seiner Entscheidung beide Rechte gegeneinander ab und kam zum Schluss, dass die Urteile der beiden Untergerichte überschießend waren und die Künstlerin in ihrem Recht auf Kunstfreiheit verletzt war.
Zunächst erläuterte das Bundesverfassungsgericht, dass Persönlichkeitsrechte die Kunstfreiheit einzuschränken vermögen. Die Präsentation des Bildes in einer Ausstellung zu den Themen Kindesmissbrauch und Gewalt berührt das Persönlichkeitsrecht des Mädchens derart schwerwiegend, dass die Kunstfreiheit zurückzutreten hat. Durch die Verknüpfung des Porträts mit diesem Themenkomplex besteht die Gefahr einer Schädigung des noch minderjährigen Mädchens in persönlicher und sozialer Hinsicht. Allerdings stellt das von den Untergerichten verhängte umfassende Verbot, das Gemälde jeglichen Dritten gegenüber öffentlich zu machen oder zu verbreiten, eine besonders starke Beeinträchtigung der Kunstfreiheit dar und bedarf daher einer besonderen Begründung. Der Umfang des Veröffentlichungs- und Verbreitungsverbotes muss nämlich verhältnismäßig sein.
Das Bundesverfassungsgericht sah es in diesem Fall als unverhältnismäßig an, der Künstlerin jegliche Veröffentlichung des Porträts zu verbieten. Es wäre völlig ausreichend, das Verbot nur in einem Kontext, der Assoziationen zu Missbrauch und Gewalt schafft, auszusprechen. Ein generelles Ausstellungsverbot geht zu weit. Das Recht auf Kunstfreiheit muss mit den Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht in einen verhältnismäßigen Ausgleich gebracht werden. Hierfür reicht es, nur die Ausstellung im verpönten Kontext zu verbieten.
Der Fall weckt Erinnerungen an ein Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofes (OGH) aus dem Jahr 2003. Der OGH urteilte nicht über die verfassungsmäßige Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrechten, sondern befasste sich mit dem Recht am eigenen Bild, wie es § 78 österreichisches Urheberrechtsgesetz normiert. Demnach dürfen Bildnisse von Personen weder öffentlich ausgestellt noch verbreitet werden, wenn dadurch berechtigte Interessen der Abgebildeten verletzt werden.
Eine 25-jährige Frau arbeitete für einen Fotografen als Aktmodell und übertrug ihm mit Vertrag unwiderruflich die Verwertungsrechte an den Fotos. Sie erhielt dafür ein Honorar. Einige der Fotos wurden auch in Zeitungen, etwa der Kronen Zeitung, veröffentlicht. Etwa ein Jahr später untersagte das Model dem Fotografen die weitere Veröffentlichung ihrer Aktfotos und begründete dies mit einer Änderung ihrer Lebensumstände. Sie übe jetzt einen Beruf in verantwortungsvoller Position aus, wolle sich demnächst verloben und habe sich auch schon ironische Bemerkungen wegen der Fotos gefallen lassen müssen.
Durch die Veröffentlichung würde sie in ihren berechtigten Interessen und damit in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt. Der OGH gab ihr Recht. Die Richter meinten zwar, dass die geänderten Lebensumstände hier nicht maßgeblich seien, weil solche Änderungen beim Abschluss des Vertrages mit dem Fotografen vorhersehbar waren. Deshalb rechtfertigte eine Änderung der Lebensumstände allein weder eine Kündigung des Modelvertrages noch den Entzug der Verwertungsrechte. Bei Aktfotos gelte aber anderes. Aktfotos beträfen den Kern der Persönlichkeit. Es sei so, dass solche Fotos in der breiten Öffentlichkeit immer noch als peinlich empfunden werden und sich die meisten Personen nicht für die Öffentlichkeit nackt fotografieren lassen würden. Aus diesem Grund überwiegten die Interessen des Aktmodels die Interessen des Fotografen. Das Model könne daher dem Fotografen die Veröffentlichung der Fotos verbieten. Der Fotograf hat allenfalls Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen, unter Abzug der bis dahin erzielten Erträge. Der OGH hat sich in seiner Entscheidung in keiner Weise mit der Kunstfreiheit auseinandergesetzt. Er betrachtete die Angelegenheit nur aus dem Blickwinkel des Persönlichkeitsrechtes und des Vertragsrechtes. Es wäre spannend zu wissen, wie der österreichische Verfassungsgerichtshof die Sache beurteilen würde, sollte ein solcher Fall 17 Jahre später vor ihm landen.