Interview mit Grażyna Kulczyk
Im Januar 2019 setzte die polnische Unternehmerin und Kunstsammlerin Grażyna Kulczyk ihre Vision mit der Eröffnung des Muzeum Susch in die Tat um. Es war gegen alle Widerstände und zur Überraschung vieler, die nicht daran geglaubt haben, dass dieses Museum ein Bestimmungsort werden würde, der bereits in den ersten 12 Monaten von 25.000 Gästen besucht wurde.
Das Dorf Susch liegt am historischen Pilgerweg nach Santiago de Compostela und Rom, im Engadintal der Schweizer Alpen. Chloë Ashby spricht mit Grażyna Kulczyk darüber, warum sie dieses Museum bewusst nicht im Zentrum, sondern in der Peripherie umgesetzt hat. Kulczyk schöpft dabei aus der engen Verbindung zur Natur und der Idee einer „neuen Pilgerfahrt“, fern ab des oberflächlichen Großstadt-Glamours und sie legt dar, wie wir das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern in der Kunstwelt ausgleichen können und wie ein nachhaltiges Verständnis von Kultur einen neuen Hotspot für die zeitgenössische Kunst etabliert hat.
Ich glaube fest an diese besondere, natürliche Umgebung als einen perfekten Ort für experimentelles Denken. Es gibt aktuell viele Diskussionen über die Gefahren der Instagrammisierung von Kunst und den „Mona-Lisa-Effekt“. Diese Tendenzen verweisen die Kunst auf die Rolle eines oberflächlichen Sozialfaktors und erkennen sie nicht als den tiefen, reflektierenden, intellektuellen Akt, der wirklich die Macht hat, Veränderungen zu bewirken.
Was hat Sie dazu bewogen, das Muzeum Susch zu gründen, und welche Lücke versucht es zu füllen?
Ich habe mich in den letzten 45 Jahren für diverse künstlerische Aktivitäten engagiert. Schon als Jurastudentin begann ich, in meiner Heimatstadt Pozna´n Vorträge über zeitgenössische Kunst zu halten und mich in der Kunstszene zu engagieren. Seitdem habe ich Hunderte von Kunstprojekten unterstützt und später mein Lebensmotto 50 % Kunst / 50 % Investition realisiert, um mein Engagement kohärent umzusetzen und zu strukturieren. Dieses Motto definierte speziell Stary Browar: das 8 Hektar große ehemalige Brauereigebäude, das ich im Zentrum von Pozna´n restaurierte und 2003 eröffnete. Mit der Einrichtung von Ausstellungsräumen und einem Raum für Choreographie und neuen Tanz im Herzen eines kommerziellen Komplexes habe ich es einem breiten Publikum ermöglicht, Kunst im öffentlichen Raum zu entdecken. Mit dem Muzeum Susch hier in den Schweizer Alpen habe ich beschlossen, mich auf den philanthropischen Teil zu konzentrieren und einen Zielort zu schaffen. Ich habe den Wunsch, aktiv zu sein und die Kunstwelt von meiner Position aus zu gestalten, um zu zeigen, wie Kunstlandschaften auch außerhalb der etablierten, globalen Hauptstädte, selbst in ländlichen Gebieten, funktionieren können – wobei ich damit ein Paradigma herausfordere, das von dem geprägt ist, was die Architektin, Urbanistin und Autorin Keller Easterling als „Infrastrukturraum“ bezeichnet hat.
Erzählen Sie mir mehr über das Programm und die Vielfalt der von Ihnen und Ihrem Team entwickelten Formate?
Das Muzeum Susch und sein Ausstellungsprogramm ist eine der fünf Säulen der Art Stations Foundation CH. Die sich ergänzenden Aktivitäten der Stiftung sind ein Forschungsinstitut, Instituto Susch, mit dem Women’s Center of Excellency, ein Choreographieprogramm, Akziun Susch, daneben ein interdisziplinäres Residenzsprogramm, Temporars Susch, und ein jährliches akademisches Symposium, Disputaziuns Susch. Zu Beginn dieses Jahres haben wir zudem eine neue Reihe von Kammermusikkonzerten in Zusammenarbeit mit dem Direktor des Luzerner Sinfonieorchesters lanciert. Ich glaube an eine erweiterte Rolle der Museen, nicht nur in Forschung und Lehre, sondern auch in der Verbindung verschiedener Genres, und aus diesem Grund bezeichne ich unsere Bemühungen gerne als „Museum plus“. Ich hoffe, dass die Ergebnisse dieses breiten Engagements und der interdisziplinären Zusammenarbeit die Institution letztendlich von innen heraus aufladen und einen einzigartigen Rahmen schaffen, eine kulturelle Ökonomie, die neue Ideen und ein Bekenntnis zum Konzept der „slow art“, also einer ‘langsamen Kunst’, fördert.
Wie setzt sich die Kunst – insbesondere die permanenten, ortsspezifischen Installationen – mit der Architektur auseinander?
Die permanenten Installationen im Muzeum Susch spielen eine wesentliche Rolle für den sich entwickelnden Charakter und die unverwechselbare Gestaltung des Ortes und sie hinterfragen den Begriff der „Ortsspezifik“. Die dreizehn ausgestellten Werke stehen in direkter Verbindung mit der Architektur des Gebäudes und der alpinen Landschaft, die es umgibt. Das erste ortsspezifische Werk, das in Susch ankam – Monika Sosnowskas Stairs (2016–17) – wurde aufgrund der monumentalen Größe der beeindruckenden Stahlkonstruktion, die jetzt den zentralen Turm des Gebäudes ausfüllt, noch vor der Fertigstellung des Museumsgebäudes installiert. Dort, wo sich die meisten Museen um eine große Treppe drehen, steht im Muzeum Susch dieses Kunstwerk im Mittelpunkt. Im Laufe der Zeit werden dem Museum weitere permanente Installationen hinzugefügt und so die visuelle Struktur des Ortes und die Art und Weise, wie die verschiedenen Kunstwerke im Raum miteinander kommunizieren, weiter verändern.
Warum haben Sie beschlossen, im Schweizer Dorf Susch ein Museum zu eröffnen?
Meine Pläne zur Gründung eines Kunstmuseums haben schon vor mehr als einem Jahrzehnt begonnen. Im Jahr 2007 gab ich in Pozna ´n ein Museumsprojekt von Tadao Ando in Auftrag, welches das künstlerische Herz des Stary-Browar-Komplexes werden sollte. Nachdem die lokale Regierung die Möglichkeit einer Zusammenarbeit abgelehnt hatte, ging ich dazu über, ein Museum in der Hauptstadt Warschau zu planen. Die Stadt Warschau war jedoch nicht an dem von mir vorgeschlagenen, privat-öffentlichen Projekt interessiert, obwohl es vollständig von mir finanziert worden wäre. Ich entdeckte den Standort in Susch zufällig, als ich eines Tages, von meinem nahegelegenen Haus im Unterengadin aus, unterwegs war. Mir war eine Gruppe von industriell anmutenden Gebäuden aufgefallen, die mich neugierig machte. Ich begann, mich über die Geschichte des Ortes zu informieren, und entdeckte, dass diese Gebäude einst eine wichtige Rolle für die lokale Gemeinschaft und in der weit zurückreichenden Geschichte gespielt hatten. Sie dienten als Rastplatz auf dem alten Pilgerweg nach Santiago de Compostela und Rom; sie waren ein Ort, der mit einer der ersten Reformationsdebatten in der benachbarten Kirche von 1537 in Verbindung stand; und sie waren ein Ort des Handels (die Mönche waren aktive Bierproduzenten) – sie agierten, vor der Erfindung des Begriffs ‘glocal’, wahrhaft lokal als auch in grösseren Zusammenhängen. In meinen Augen war ein solch abgelegener Ort mit seiner reichen Kulturgeschichte, der perfekte Ort für die Art von Aktivität, die ich im Sinn hatte – ein Museum mit einer Perspektive, die aufrüttelt, und einen Ansatz bietet für das Nachdenken über mögliche Zukunftsperspektiven, abseits der geschäftigen städtischen Zentren. Deshalb beschloss ich, alle meine Bemühungen und Aktivitäten nach Susch zu verlagern und dort die komplexe kulturelle Institution zu schaffen, von der ich seit Jahren geträumt hatte.
Das Museum möchte auch unterschätzte und in Vergessenheit geratene Künstler*innen besser sichtbar machen – und doch liegt es in einer abgelegenen und ländlichen Gegend. Ist das kontraintuitiv?
Die Art von Sichtbarkeit, die wir anstreben, lässt sich vielleicht am besten mit der Schaffung bewusster und sinnvoller Begegnungen beschreiben, bei denen ein echter Fokus trotz oder eben wegen dieser Abgeschiedenheit eine viel stärkere Wirkung erzielen kann. Ich glaube fest an diese besondere, natürliche Umgebung als einen perfekten Ort für experimentelles Denken. Es gibt aktuell viele Diskussionen über die Gefahren der Instagrammisierung von Kunst und den „Mona-Lisa-Effekt“. Diese Tendenzen verweisen die Kunst auf die Rolle eines oberflächlichen Sozialfaktors und erkennen sie nicht als den tiefen, reflektierenden, intellektuellen Akt, der wirklich die Macht hat, Veränderungen zu bewirken. Aber es gibt auch Initiativen, die die Reichweite der Aktivitäten des Museums über seinen physischen Standort hinaus erweitern und es auch für diejenigen zugänglich machen, die es vielleicht nicht besuchen können. Zum Beispiel die Podcast-Reihe „Promise no Promises“, die zunächst ein Ergebnis, eine Dokumentation der Konferenzen des Instituto Susch war – sich mittlerweile aber zu einem Ort für Podcasts aus verschiedenen Quellen entwickelt, die auf Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und feministisches Denken fokussieren. Oder unsere Publikationen – die erste, die gerade erst erschienen ist, Anda Rottenbergs „From Poland with Love. Briefe an Harald Szeemann“, die in einer Reihe von fiktiven Briefen an den legendären Kurator und Schriftsteller Harald Szeemann über die Kunst und das Wesen des Kuratierens in der Kunstgeschichte reflektiert.
Lassen Sie uns ein wenig über Künstlerinnen sprechen. Nach Ihrer Eröffnungsausstellung ‚A Woman Looking at Men Looking at Women‘ untersucht auch die dritte Ausstellung ‚Up to and Including Limits: After Carolee Schneemann‘ wieder die Rolle der Frauen in der Kunst. In den letzten Jahren haben Museen und Galerien das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern als Thema aufgenommen. Warum nehmen Sie das Thema so zentral auf?
Es ist gerade ein sehr interessanter Moment in der Kunstwelt, in dem große Fortschritte erzielt werden, die Frauen in Ausstellungen oder in der Neugestaltung von ständigen Sammlungen in den Mittelpunkt stellen. Frauen gewinnen in vielen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur in der Kunst, an Bedeutung: in der Wissenschaft, der Medizin, der Technologie. So werden natürlich auch Künstlerinnen mehr als früher gefeiert. Da der jahrzehntelange Kampf für gleiche Rechte allmählich Früchte trägt und Frauen jetzt mehr Mitsprache erhalten, ist dies ein allgemeiner Trend, der nach unten – oder besser gesagt, nach innen – durchsickert. Aber natürlich ist es unbestreitbar noch ein weiter Weg, um das historische Ungleichgewicht, das über Jahrhunderte hinweg bestand, zu beseitigen. In Institutionen und rückblickend auf die Geschichte vieler Ausstellungen wurden diese jedoch zu oft in Bezug auf die Geschlechterspezifik sowohl konzipiert als auch diskutiert. Sie sollten aber in der gesamten Geschichte des Ausstellungswesens betrachtet werden! Ausstellungen sollten den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern neue Kontexte und Positionen bieten – und wenn viele der ausgestellten Positionen von Frauen sind, muss die Botschaft an das Publikum klar sein, dass diese Entscheidungen aufgrund des Werks und nicht aufgrund des Geschlechts getroffen wurden.