Interview mit Melanie Manchot
Die Fotografin und Videokünstlerin Melanie Manchot beschäftigt sich mit der Landschaft und der touristischen Infrastruktur von alpinen Wintersportorten. Im Vordergrund steht dabei die Verantwortung der Menschen für die Obhut der Berge. Für INN SITU, das Kunst- und Kulturprogramm der Bank für Tirol und Vorarlberg, verbrachte die Künstlerin mehrere Wochen in der Vorarlberger Gemeinde Gaschurn und erweiterte ihre Arbeit „Mountainworks“ um ein Kapitel: „Mountainworks (Montafon)“. Die entstandenen Fotografien und Videoarbeiten lassen die Betrachter*innen hinter die Kulissen des Naturerlebnisses „Berg“ blicken, stellen aktuelle Fragen in den Raum und vermitteln dabei ein Gefühl der Wertschätzung für diejenigen, die Tag und Nacht im Einsatz sind, um den Berg für uns alle sicher erlebbar zu machen.
Sie beschäftigen sich mit dem Thema Mensch und Umwelt. Was reizt Sie daran?
Alle meine Werke beschäftigen sich mit unserem Selbstverständnis in der Welt. Sie hinterfragen, wie wir unsere Identitäten bestimmen, wie wir unseren Platz finden. Das machen wir sowohl über das physische Umfeld, also den tatsächlichen Ort und über unsere Sozialität, da wir inhärent soziale Wesen sind und unweigerlich nach Außen schauen. Wir reflektieren uns über unsere Umwelt, das uns Außen Stehende. Es gibt für mich keine Essenz in der Identität, keinen absoluten Festpunkt, sondern wir produzieren uns eigentlich ständig. Wir präsentieren graduell andere Versionen des Selbst gegenüber unseren Eltern, unseren Freunden, unseren Partnern oder Fremden. Wir produzieren unterschiedliche Identitäten. Es gibt zwar einen Zusammenhang zwischen diesen vielen Versionen des Selbst, jedoch sind wir ständig dabei uns selbst zu inszenieren – unweigerlich. In meinem Werk interessieren mich vor allem die Berge, sie sind die großen Archetypen der erhabenen sublimen Natur. Die Auseinandersetzung mit dem Berg bietet die Möglichkeit, uns in vielerlei Hinsicht zu reflektieren. Berge konfrontieren uns in vielen Formen, wir hinterfragen unser Verhältnis zu ihnen sowohl im Sinne der physischen als auch der zeitlichen Dimensionen. Berge stehen ja für die Tiefenzeit, die geologische Zeit. Unsere menschliche Zeitrechnung ist im Vergleich dazu relativ und willkürlich, sie ist artifiziell, wir haben sie gemacht, aber in den Bergen spürt man, dass es eine andere Zeitrechnung gibt.
Im Grunde besteht Ihre Arbeit vielfach darin, soziologische Phänomene zu erforschen. Ist das richtig oder würden Sie dem widersprechen?
Weder ja noch nein. Mich interessieren die Soziologie und auch die Psychologie extrem. Die Soziologie ist aktuell ohnehin interessant mit verschiedenen Soziologen wie Bruno Latour und Pierre Bourdieu, die in der Kunstwelt wichtig sind. Insofern beschäftigen sich die Arbeiten schon mit Themen, die auch in der Soziologie, Psychologie und Philosophie beheimatet sind, aber die Arbeiten rein soziologisch zu verstehen, wäre eine Reduktion. Kunst ist im Idealfall nicht einer dieser Disziplinen zugeschrieben, sondern bewegt sich transdisziplinär aus einem eigenen Standpunkt heraus zwischen diesen Welten.
Dennoch spielt der Mensch in Ihren Arbeiten eine zentrale Rolle…
Genau, es geht immer um Menschen. Gerade auch dann, wenn man sie nicht offensichtlich in der Arbeit sieht. Beispielsweise hier, in dieser Ausstellung, geht es immer um den Platz des Menschen in diesen Inszenierungen. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass meine Auseinandersetzung mit dem Menschen das Material für meine Arbeiten bildet.
Mich interessiert es weniger, eine Stellungnahme zu produzieren oder den Zeigefinger zu erheben, weil ich nicht glaube, dass das notwendigerweise die Menschen zum Nachdenken anregt.
Wir haben uns mit Ihrer Biografie beschäftigt, und eine Ihrer wohl prägendsten Serien in den 90er Jahren waren die Fotos von Ihrer Mutter. 6 Jahre lang dauerte dieses Projekt. Wie hat sich das auf die Beziehung zwischen Ihrer Mutter und Ihnen ausgewirkt?
Es hatte viele Auswirkungen. Zum einen sind meine Mutter und ich uns sehr nahe, weil ich bei meiner Mutter aufgewachsen bin. Mein Vater ist sehr früh verstorben und wir waren eigentlich immer zu zweit. Als ich anfing, meine Mutter zu fotografieren, ging es mir nie um Biografie oder Autobiografie, sondern es ging darum, über eine älter werdende Frau zu sprechen. Diese Auseinandersetzung mit den Themen des Unsichtbar-Werdens im Alter und den komplizierten Fragen von Schönheit, Ästhetik und Kunst waren gerade in den 90er Jahren spannend. Der Begriff der Schönheit ist immer – zu der Zeit wie auch gegenwärtig – sehr kompliziert, weil philosophisch beladen und historisch belastet. In der Geschichte der Ästhetik wurde Schönheit oft mit Wahrheit gleichgesetzt. Das, was schön ist, ist wahr. Das war ideologisch sehr gefährlich. Der Feminismus war in dieser Zeit ein wichtiger Referenzpunkt für meine Arbeit, eine Theorie, die mich herausgefordert und informiert hat. Das erste Bild meiner Mutter zeigte nur ihren Körper, also ohne Gesicht. Ein Bild einer Frau, die nicht mehr traditionell als begehrenswert empfunden wird, das ich aber als schön empfinde. Ich wollte diese Schönheit zeigen. In ihrem Buch ‚World Spectators‘ diskutiert Kaja Silverman Fragen zu Portrait, Fotografie und Voyeurismus. Unter anderem schlägt sie vor, dass es in vielen Fällen nicht rein um Formen des Voyeurismus geht, sondern dass jemand zu betrachten eine Form von Affirmation ist. Also auch eine Form der Wertschätzung. Diese Ideen spielten auch in den Gesprächen zwischen meiner Mutter und mir eine große Rolle. Hieraus folgte eine erste Serie von Portraits in verschiedenen Posen, fotografiert in meinem Londoner Atelier. Danach eine weitere Serie, ‚Liminal Portraits‘, an den realen Orten, an denen sie sich aufhielt. Dies war für mich der Moment, wo ich konsequent damit begonnen habe, die portraitierten Personen in ihre Umwelt einzubinden.
Als Künstlerin beobachten und inszenieren Sie zugleich. Verändern Sie durch Ihre Präsenz und das daraus entstehende Werk die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt?
Notwendigerweise. In dem Moment, wo wir einen Raum betreten, ist dieser verändern. In dem Moment, wo eine Kamera dazu kommt, ist wieder alles verändert. Eine Kamera ist nie neutral. Die Präsenz der Kamera ist ein weiteres Auge. Wir sind nicht neutral und Kameras auch nicht. Sie funktionieren wie Protagonisten, sie lösen eine Kraft aus, haben direkten Einfluss und werden selbst ein Beweggrund. Durch meine Arbeit verändert sich etwas bei mir, in der Umwelt und bei den anderen Menschen.
2018 wurde eine große monografische Schau in Frankreich von Ihnen gezeigt. Werke, die zwischen 1998 und 2018 entstanden sind. Hat sich die Gesellschaft in den 20 Jahren Ihrer Arbeit weiter entwickelt? Das ist eine so riesengroße Frage.
Im Selbstverständnis und Verständnis der Geschlechter untereinander hat sich wahnsinnig viel getan und da wird sich noch sehr viel tun. Auch wenn sich meine Arbeiten derzeit weniger offensichtlich mit Feminismus beschäftigen, heißt es nicht, dass ich weniger Feministin bin. Ich setze mich nach wie vor dafür ein, dass alle Formen von Geschlechts-Definition und ‑Identifikation Gleichberechtigung erlangen, ob binär oder non-binär. Unsere Gesellschaft ist in den letzten 2 Jahrzehnten zunehmend medienorientiert und dadurch, eben weil nicht neutral, mediendominiert geworden. Wir sind viel bildbezogener und haben täglich mit einer Bilderflut zu kämpfen. Wir sind selbst noch im Prozess begriffen, zu lernen damit umzugehen. Die Kinder wachsen mit Screens auf, sind über sie verbunden. Unser Verhältnis zur Technologie ist fundamental verändert und wir haben eine große Verantwortung gegenüber den technologischen Erfindungen der letzten 20 Jahre. Wir müssen entscheiden, wie wir damit umgehen und das wird eine große Herausforderung der nächsten Jahre. Wir sehen eine zunehmende Vereinsamung, gerade bei jungen Menschen und wir müssen schlauer werden, wie wir diese Welle der Vereinsamung wieder aufheben können.
In Ihren Werkserien legen Sie den Fokus nicht auf Kritik, sondern weisen eher objektiv auf die Existenz von Phänomenen hin. Ist das so richtig?
Kritik ist wichtig und ich glaube, es eine Frage, wie die Kunst am effektivsten an kritischen Diskussionen teilnimmt. Die Kunst hat einen „social contract“, einen sozialen Vertrag und damit sozialen Auftrag der Gesellschaft gegenüber. Ich nehme diesen sehr ernst. Die Rolle der Kunst ist nicht rein ästhetisch, sondern als Fragesteller und Reflektoren unserer Gesellschaft zu funktionieren. Manche Künstler*innen sind sehr viel offensichtlich kritischer, polemischer. Mich interessiert es weniger, eine Stellungnahme zu produzieren oder den Zeigefinger zu erheben, weil ich nicht glaube, dass das notwendigerweise die Menschen zum Nachdenken anregt. In diesen Arbeiten hier geht es auch nicht darum, Tourismuskritik zu üben, sondern den Menschen Welten zu öffnen und diese Hintergrundarbeit am Berg aufzuzeigen. Tourismus an und für sich ist nicht gut oder schlecht, die Frage ist, wie wir Natur und unsere Erfahrung von Natur in Einklang bringen können. Natürlich beschäftigen sich meine Arbeiten auch mit dem Klimawandel. Sie zeigen auf ohne zu sagen „man darf“ oder „man darf nicht“. Uns gehören die Berge nicht, wir besitzen die nicht, wir haben sie auch nicht gebaut. Wir haben sie in unserer Obhut und die Frage ist, wie gehen wir damit um?
Was löst Schnee bei Ihnen aus bzw. was assoziieren Sie damit?
Schnee interessiert mich sowohl in seiner metaphorischen als auch in seiner ästhetischen Kraft. Schnee ist ein instabiles Material, nie gleich, sich ständig verändernd, in gewisser Hinsicht Sinnbild für vieles, was derzeit in der Welt passiert. Schnee, Eis und Gletscher stehen für die Problematiken, mit denen wir uns aktuell auch klimatisch auseinandersetzen. In Bezug auf Ästhetik interessiert mich, dass der Schnee sich um alles legt und so die Landschaften verändert: sie werden monochromer. Das finde ich interessant weil es eine Reduktion der Farbpalette ist. Gleichzeitig sieht die Kamera im weißen Licht das gesamte Farbspektrum, also ist es sehr schwer, Schnee darzustellen. Das ist die Herausforderung.
Sie haben ja 2019 in Gaschurn gearbeitet, wo aufgrund des enormen Schneefalls der Ort von der Außenwelt abgeschnitten war. Waren Sie von dieser Macht der Natur fasziniert?
Absolut, ja! Für die Werke, die entstanden sind, war diese Situation ein echter Glücksfall. Diese Unmassen an Schnee haben den Begriff Schneemanagement ausgedehnt. Es ging plötzlich nicht darum, Schnee zu produzieren, sondern Schnee wegzukarren. Die Natur strömt oft in Richtung Chaos, der Mensch versucht dann wieder Ordnung hineinzubringen. Man sagt, dass die Natur das Chaos zur Stabilisierung von Komplexität nutzt. Diese gegensätzlichen Kräfte waren in diesen Tagen extrem stark zu spüren. Als wir eingeschneit und abgeschnitten waren, merke man relativ schnell die Konsequenzen: fast leere Supermärkte, die Leute sind nicht mehr draußen, ständiges Sirenengeheul, Helikoptergeräusche. Man ist plötzlich Teil eines Ausnahmezustands.
Die Serie „Mountainworks (Montafon)“ ist gezielt in Zusammenarbeit mit INN-SITU entstanden. Es geht in diesem Kulturformat um die Auseinandersetzung der Künstler mit der Region. Wie haben Sie diesen Prozess als Künstlerin erlebt?
Diese Serie ist für mich ein neues Kapitel in einem Ort, den ich noch nicht so gut kannte. Die Arbeit ist sehr rechercheorientiert, gut 1,5 Jahre habe ich mich mit diesem Projekt auseinandergesetzt. Ich musste mir das Netzwerk und die Beziehungen neu aufbauen, erst herausfinden, wie offen die Menschen für die Ideen sind. Der Anspruch an mich selbst war jener, dass ich mich nicht wiederhole. Ich habe also etwas ganz Neues produziert. Ich war alleine dort, und der ganze Prozess hatte eine Klarheit. Ich konnte mich voll darauf konzentrieren. Vieles kann geplant werden, aber die Arbeit, die entsteht, muss mich letztendlich selber überraschen. Ich war tagelang unterwegs, bis in die Dunkelheit, hatte Zeit, Dinge auszuprobieren, Ideen zu verfolgen, ohne zu werten. Der Komponist John Cage hat einmal gesagt, dass es in der Kunst schwer ist, gleichzeitig zu kreieren und zu analysieren. Dem stimme ich zu. Ich arbeite oft ohne zu wissen, ob daraus notwendigerweise Kunst wird. Das sind dann oft auch die spannendsten Prozesse.
Welches würden Sie im Zuge dieser Ausstellung als ein „Hauptwerk“ bezeichnen? Gibt es eines?
Das kann ich nicht sagen. Man hängt an allen neuen Arbeiten sehr. Man ist ihnen sehr verbunden. Ich sehe heute auch die Arbeiten zum ersten Mal auf den großen Monitoren, eben in der fertigen Ausstellung. Es sind definitiv sehr viele dabei, die mich überrascht haben.