Das Geheimnis des verschollenen Porträts

Giovanni Boldini – Franca Florio: Ein Porträt, Drei Kleider

Die archäo­me­tri­sche Unter­su­chung eines Gemäl­des darf nie­mals von der Geschichts- und Doku­men­ten­for­schung abge­kop­pelt wer­den – die­ser all­ge­mein­gül­ti­ge Grund­satz trifft auch für die Ana­ly­se des Por­träts der Don­na Fran­ca Flo­rio von Gio­van­ni Bol­di­ni zu und erfor­dert somit eine kur­ze his­to­ri­sche Einführung.

Im März 1901 beher­berg­te Don Igna­zio Flo­rio, einer der bekann­tes­ten Unter­neh­mer Ita­li­ens und reichs­ten Män­ner Euro­pas den berühm­ten ita­lie­ni­schen Maler Gio­van­ni Bol­di­ni (Fer­ra­ra 1842 – Paris 1931) in sei­nem Haus in Paler­mo. Der für sei­ne Frau­en­bil­der im Stil der Bel­le Épo­que gefrag­te Bol­di­ni leb­te in Paris und soll­te Flo­ri­os Gemah­lin, Don­na Fran­ca Jaco­na di San Giu­lia­no, por­trä­tie­ren. Zu die­sem Anlass wähl­te Don­na Fran­ca ein herr­li­ches Abend­kleid aus schwar­zer Sei­de mit sam­te­nen Appli­ka­tio­nen, das ihre Grö­ße und Figur, ihre bern­stein­far­be­ne Haut, ihr schwar­zes Haar und ihre grü­nen Augen beson­ders beton­te. Eben die­ses Gewand steht im Mit­tel­punkt unse­rer Geschich­te: Es ist heu­te im Museo del Cos­tu­me e del­la Moda im Flo­ren­ti­ner Palaz­zo Pit­ti zu sehen.

Don­na Fran­ca war eine der bekann­tes­ten und ele­gan­tes­ten Frau­en Ita­li­ens, und ihre Ehe mit Don Igna­zio war eine bun­te Abfol­ge von Emp­fän­gen, Bäl­len und Fes­ten in den bes­ten Krei­sen der euro­päi­schen Gesell­schaft – eine ange­mes­se­ne Gar­de­ro­be mit einer Aus­wahl schier außer­or­dent­li­cher Klei­der war somit unab­ding­bar. Bol­di­ni mal­te sie also in einem ihrer fabel­haf­ten Abend­klei­der, unter­schlug aller­dings ein wich­ti­ges Acces­soire: das hohe Brust­stück aus Spit­zen­stoff, das dem Kleid einen wesent­lich stren­ge­ren Ton ver­lieh und der Rol­le von Don Igna­zi­os Köni­gin von Paler­mo wesent­lich ange­mes­se­ner war.

Die Epi­so­de wird in Dario Cec­chis Bio­gra­fie von Bol­di­ni (1962) detail­liert beschrie­ben. In der Korrespondenz2 zwi­schen Bol­di­ni und Don Igna­zio weist letz­te­rer in einem sei­ner Schrei­ben auf sei­ne Abwe­sen­heit aus Paler­mo zum Zeit­punkt der Fer­tig­stel­lung des Bil­des hin und äußert sei­ne Ent­täu­schung ob der „alles ande­re als schö­nen und viel­mehr wahr­heits­frem­den und unna­tür­li­chen Posi­ti­on“. Flo­rio bit­tet den Künst­ler außer­dem, er möge „die Posi­ti­on der Figur im Bild ändern“, dies sei „äußerst wich­tig“. Es dürf­te kein Pro­blem gewe­sen sein, das Kleid zu ver­län­gern und die Knö­chel der Dame zu bede­cken, wie vie­le His­to­ri­ker anmerk­ten (etwa auch in den Ver­stei­ge­rungs­ka­ta­lo­gen von Christie’s 1995 und Sotheby’s 2005): Sie gin­gen aller­dings davon aus, die ers­te Ver­si­on des in Paler­mo gemal­ten Por­träts sei jene im zen­tra­len Teil. Dabei lie­ßen sie wohl außer Acht, dass das Bild kei­nes­falls der Mode des Jah­res 1901 ent­sprach, son­dern wesent­lich spä­ter ent­stan­den sein muss! Es han­delt sich viel­mehr um eine Anpas­sung der für eine Dame im Paler­mo des frü­hen 20. Jahr­hun­derts wenig ange­mes­se­nen Pose. Das Gemäl­de wur­de anläss­lich der 5. Bien­na­le von Vene­dig (22. April – 31. Okto­ber 1903) aus­ge­stellt und vom Autor und Kunst­kri­ti­ker Vitto­rio Pica in einer Publi­ka­ti­on des­sel­ben Jah­res auf­grund eben die­ser Pose mit wenig schmei­chel­haf­ten Wor­ten bedacht.

Hier­zu ist auch zu erwäh­nen, dass Igna­zio Flo­rio bereits 1901 um die Auf­nah­me des Por­träts sei­ner Frau in die Bien­na­le bat, und damit wohl mit einer gehö­ri­gen Por­ti­on Iro­nie den Maler Boldini6 her­aus­for­der­te. Er füg­te aller­dings prompt hin­zu, er wür­de beim Erhalt eines ent­spre­chen­den Tele­gramms von Bol­di­ni umge­hend den Kauf­preis für das Bild in sei­ner bestehen­den Form (also ohne Kor­rek­tu­ren) bezah­len – zwei­fel­los, um das Werk recht­mä­ßig aus­stel­len zu kön­nen. Das Gerücht, Flo­rio habe nicht bezah­len wol­len und tat­säch­lich nie bezahlt, ist somit völ­lig falsch.

Wie bereits ange­merkt, waren die Kri­ti­ker Bol­di­ni nicht immer wohl­ge­sinnt, was in gewis­ser Wei­se Don Igna­zi­os Posi­ti­on bekräf­tigt: Vitto­rio Pica erkennt im Por­trät von Don­na Fran­ca Flo­rio in sei­nem Buch zwar „in der Aus­füh­rung des Gesichts und des Hals­an­sat­zes das Kön­nen des ita­lie­nisch-fran­zö­si­schen Malers“, befin­det den übri­gen Teil des Gemäl­des aller­dings für „affek­tiert und geküns­telt durch die über­mä­ßig ver­dreh­te Hal­tung des schlan­ken Kör­pers… der sogar an die Kari­ka­tu­ren von Cap­piel­lo erin­nert“ . Pica kann­te, wie auch Bol­di­ni selbst, die Pla­ka­te des zu jener Zeit in Paris leben­den Cap­piel­lo gut. Die Ähn­lich­keit des Por­träts mit der Dar­stel­lung in Abb. 5 ist tat­säch­lich ver­blüf­fend, wenn man bedenkt, dass das Wer­be­pla­kat eben­falls aus dem Jahr 1901 stammt. Reka­pi­tu­lie­ren wir also: Bol­di­ni erhielt sei­ne Bezah­lung ver­mut­lich noch bevor sein Gemäl­de nach Vene­dig geschafft wur­de und stell­te eine ent­spre­chen­de Quit­tung aus; wie bereits in sei­nen ers­ten Schrei­ben erwähnt, erklär­te er sich nach der Bien­na­le – viel­leicht auch auf­grund der nicht durch­wegs posi­ti­ven Kri­ti­ken – bereit, unter Wah­rung sei­ner künst­le­ri­schen Würde9 eini­ge Ände­run­gen vor­zu­neh­men. Er ließ sich das Por­trät nach der Bien­na­le, wahr­schein­lich also nach dem Herbst 1903, direkt aus Vene­dig nach Paris schi­cken, um den For­de­run­gen Flo­ri­os nachzukommen.

Details im Ver­gleich: Der Arm wur­de über­malt, um den Ärmel zu ent­fer­nen; die Sti­cke­rei oder das Schmuck­stück wur­de ver­län­gert. (Infra­rot-Reflek­to­gra­fie – LANDA „Sapi­en­za“ – Rom, Dr. Anna Can­di­da Feli­ci und Dr. Lucil­la Pron­ti, M. L. Paoletti).

Ich ver­mu­te daher, dass das Foto von Bol­di­ni vor dem Gemäl­de der Don­na Fran­ca in Paris ent­stand, und zwar ent­we­der, um Flo­rio zu zei­gen, dass die Arbei­ten im Gan­ge waren, oder um des­sen Frei­ga­be für die „neue Posi­ti­on“ zu erbit­ten. Tat­säch­lich ist aus der Lini­en­füh­rung des Kleids der radi­ka­le Wan­del der Mode um 1918/1920 (in Paris und anders­wo) nach dem 1. Welt­krieg und dem dar­auf­fol­gen­den wirt­schaft­li­chen Auf­schwung klar ersicht­lich. Die Tat­sa­che, dass auf dem kost­ba­ren alten Foto (Sepia) meh­re­re Kor­rek­tu­ren mit blo­ßem Auge ersicht­lich sind, beweist eben­falls, dass die Auf­nah­me im Zuge der Arbei­ten ent­stand: Die Stel­lung der Füße, die Kor­rek­tu­ren am Rock, der Stuhl rechts im Bild, der ver­mut­lich in Bol­di­nis Ate­lier stand, sowie Ärmel und Aus­schnitt des Klei­des. Die­se Grün­de und Annah­men waren es, die uns zum Ein­satz der Archäo­me­trie bewegt haben, um die ver­schie­de­nen Ver­bes­se­run­gen und neu­en Schich­ten aus den Jah­ren 1901 bis 192410 sicht­bar zu machen.

Eben 1924 schrieb Don­na Fran­ca selbst aus Paler­mo, wo sie sich kurz­zei­tig allei­ne auf­hielt, und zeig­te sich erfreut dar­über, dass ihr Por­trät den 1. Welt­krieg „heil über­stan­den“ hat­te. Bol­di­ni möge es an ihre neue Adres­se in „Rom, 138 via Sici­lia“ schi­cken. Von Geld ist nicht die Rede – das Gemäl­de wur­de offen­sicht­lich wie ver­mu­tet bereits 1903 bezahlt. Weni­ge Jah­re spä­ter begann der Unter­gang des Finanz­im­pe­ri­ums der Flo­rio, und sämt­li­che Besit­zun­gen muss­ten ver­kauft wer­den, um Schul­den zu bezah­len. In knapp 13 Tagen wur­den zwi­schen dem 19. März und dem 3. April 1934 alle beweg­li­chen Güter im Auk­ti­ons­haus Ugo Jan­do­lo im römi­schen Palaz­zo Ruspoli12 ver­stei­gert. Im dar­auf­fol­gen­den Jahr muss­ten auch die legen­dä­ren Juwe­len von Don­na Fran­ca ver­kauft werden.

Das Por­trät aller­dings ging noch im Jahr vor den Ver­stei­ge­run­gen an die Samm­lung von Baron Mau­rice de Roth­schild, der es für eine Wohl­tä­tig­keits­aus­stel­lung an die Gale­rie Wil­den­stein in New York ver­lieh. Um die Ein­grif­fe nach­zu­ver­fol­gen haben wir zwei Seri­en von Auf­nah­men mit Hil­fe der Infra­rot-Reflek­to­gra­fie anfer­ti­gen lassen.

ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN: Die von den Exper­ten ange­fer­tig­ten Auf­nah­men haben im obe­ren und unte­ren Teil des Gemäl­des eine Rei­he von Ein­grif­fen her­vor­ge­ho­ben, die mit Sicher­heit von Bol­di­ni selbst stam­men; dabei han­delt es sich nicht um soge­nann­te Pentimenti14, denn sie zei­gen die Figur, die der Meis­ter 1901 (23 Jah­re zuvor!) gemalt hat­te, und die in Fotos und Ver­öf­fent­li­chun­gen aus­rei­chend doku­men­tiert wur­de. Mit die­ser Ana­ly­se­me­tho­de haben wir somit objek­tiv und umfas­send die Hypo­the­se eines ein­zi­gen Gemäl­des bestätigt.

Die Geschich­te des Bil­des belegt ein­drück­lich, dass Intui­ti­on nicht das Ziel, son­dern viel­mehr der Aus­gangs­punkt einer seriö­sen und doku­men­tier­ten kunst­his­to­ri­schen Unter­su­chung ist. Die Sach­ver­hal­te sind unter Berück­sich­ti­gung der Archiv­quel­len und ohne unnö­ti­ge for­cier­te Aus­le­gun­gen zu inter­pre­tie­ren: Mit Hil­fe archäo­me­tri­scher Ana­ly­sen kön­nen Bewei­se aus­fin­dig gemacht und die Ent­ste­hung eines Werks zurück­ver­folgt wer­den. Kunst­his­to­ri­ker schät­zen das Poten­ti­al neu­er Tech­no­lo­gien, lei­ten die Stu­di­en und For­schun­gen, sam­meln alle ver­füg­ba­ren Ele­men­te und zie­hen ihre Schluss­fol­ge­run­gen, um zu einem mög­lichst objek­ti­ven Ergeb­nis zu gelan­gen. Die­se Metho­de räumt end­lich mit sub­jek­ti­ven Aus­le­gun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen berufs­mä­ßi­ger Authen­ti­fi­ka­to­ren auf, die ledig­lich für den Markt arbei­ten, von dem sie geschaf­fen wurden.

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Kunsthistorikerin, Absolventin der Universität „La Sapienza“ in Rom, ist Autorin von Aufsätzen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Seit über fünfzehn Jahren widmet sie sich der Malerei des 16. und 17. Jhd. in Italien und kombiniert die archäologische Zuordnung mit der Kunstgeschichte. Die Methode der detaillierten Dokumentenrecherche zu den Quellen, selbst historisch, die aus der zwanzigjährigen Bekanntschaft mit Sir Denis Mahon, einem großen angelsächsischen Gelehrten des italienischen Barock, vermittelt wurden, wird von Paoletti mit der innovativen Anwendung von Technologien für die Kunst (X-RAY - XRF, NIR) kombiniert , (μ-FTIR usw.), um in antiken Gemälden auf die Suche nach für das menschliche Auge unsichtbaren physikalischen Eigenschaften zu gehen. Die für die klassische Malerei entwickelte Forschungsmethode erzeugt unterschiedliche Forschungspfade in der zeitgenössischen Malerei, die jedoch durch die in der Antike gesammelten Erfahrungen verfeinert werden. Sie lebt und arbeitet in Rom.

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