Ein Essay von Barbara Steffen zum 80. Geburtstag des Künstlers Hermann Nitsch
NUN IST ES IN DIESEM JAHR BEREITS 20 JAHRE HER, DASS HERMANN NITSCHS „ORGIEN MYSTERIEN THEATER“ 1998 ALS 6‑TAGE-SPIEL IM SCHLOSS PRINZENDORF AUFGEFÜHRT WURDE. SEIT 1971 WERDEN DORT NITSCHS AKTIONSSPIELE ÜBER MEHRERE TAGE AUFGEFÜHRT, INSZENIERT VOM KÜNSTLER SELBST UND MIT EINEM IHN BEWUNDERNDEN PUBLIKUM.
Der Künstler ist im weißen Hemdkittel, ein Bulle auf einem Kreuz oder Tiertrage tot aufgebahrt, und die Akteure sind um das Tier herum, die es schlachten, auseinanderschneiden, öffnen und seine Innereien auf ein darunter liegendes „Opfer“ mit verbundenen Augen werfen. So ungefähr sieht das Bild aus, das meist im Freien hunderte Schaulustige aus Kunst und Kultur nach Prinzendorf bringt. Nitschs Aktionen fanden auch in internationalen Museen, Kunsthallen und Galerien zwischen Wien und den USA statt und legten Zeugnis von einer Welt ab, mit der sich der Künstler auseinandersetzt.
Der Künstler verbindet die Passion Christi mit dem Konzept der Opferrolle, den Begriff des menschlichen Ekels, den Tod und das Orgastische. Anfangs wurde Nitsch öfters für sein öffentliches Spektakel verhaftet, heute sind seine aus den Aktionen resultierenden Werke in den bedeutendsten Museen der Welt zu sehen, wie im Museum of Modern Art, New York; im MOCA, Los Angeles; im Centre Pompidou, Paris; in der Tate Gallery, London; im Städel Museum, Frankfurt, und in vielen mehr. In Österreich wurden Gemälde und Installationen in allen wichtigen Ausstellungshäusern gesammelt, wie im MUMOK in Wien, im Lentos Kunstmuseum in Linz, in der Neuen Galerie in Graz sowie in Karl Heinz Essl.
Hermann Nitsch wurde 1938 in Wien geboren, und nach dem Besuch der graphischen Lehranstalt begann der Künstler in den frühen 1960er Jahren seine ersten Aktionsarbeiten. 1962 gründete er den Wiener Aktionismus, gemeinsam mit Otto Mühl, Günther Brus und Rudolf Schwarzkogler. Nitsch war nicht nur Teilnehmer der documenta 5, 1972, und documenta 7, 1982, in Kassel, sondern er gründete auch sein Nitsch- Museum in Mistelbach und die Nitsch Foundation in Wien.
Der Wiener Aktionismus war ab Mitte der 1960er Jahre eine Erweiterung des amerikanischen Happenings und der Performance-Kunst in den USA. Hermann Nitsch ist ein Universalkünstler, der ein Gesamtkunstwerk geschaffen hat. Das „Orgien Mysterien Theater“ beschränkt sich nicht nur auf die Performances und die sehr körperliche Arbeit mit dem Tier, es beinhaltet auch die von Nitsch geschriebene Musik (Bläser und Orgel), die die Akteure und das Publikum beim Happening begleitet. Partituren, Gemälde, Schriften, Zeichnungen, Relikte und Kunstinstallationen runden Nitschs Lebenswerk ab, das fast weltweit gezeigt wurde.
Hermann Nitsch nimmt in der zeitgenössischen Kunst eine Sonderstellung ein. Niemand sonst hat sich derart intensiv mit der Opferung von Tieren in der Kunst beschäftigt und dies als ein Kunstspektakel durch ein inszeniertes Konzept mit fantastischen Gemälden und Installationen hervorgebracht.
Nitsch beschäftigt sich mit den Tabus der konservativen Gesellschaft. Die kirchliche Autorität soll in Frage gestellt werden. Aggression und Ekel sollen durch die Aktionen die Öffentlichkeit bloß und sich selbst in Frage stellen. Wie weit kann ein Mensch gehen? Mit welchen Tabus muss ein Mensch brechen, um an die Grenzen zu kommen? Die Radikalität dieser Aktionen bringt den Menschen in seiner Endlichkeit, seinem kommenden Verwesen von fleischlicher Masse zum Erstarren. Wie kann der Geist noch nachvollziehen, was mit dem Körper passiert? Wo versagt die Kirche, die noch mit Opferrollen spekuliert und christliche Rituale ins höchste Maß gesteigert hat (Selbstgeißelung, Opferdarbietungen etc.)?
Das Werk von Nitsch unterscheidet sich zwischen dem „Orgien Mysterien Theater“ und den Malaktionen. Wie beim Orgien-Mysterien-Spiel der Kadaver des Tieres und das menschliche Opfer − oft auch auf ein lebensgroßes Kreuz gebunden − im Mittelpunkt stehen, so erfüllt die Malaktion eine größere malerische, abstrakte Tätigkeit des Künstlers. In den Malaktionen werden große Leinwände vertikal gespannt sowie horizontal auf dem Boden ausgebreitet. Nitsch beschüttet mit Blut und roter Farbe die weißen Leinwände, dazu ertönt sakrale Blas- und Orgelmusik.
Das Schütten erinnert an Jackson Pollocks frühe „drip paintings“ aus den Hamptons, das weitere Verschmieren des Blutes und der roten Farbe mit den Händen und einem Besen erweitert den Malbegriff des „drippings“. Eine sakrale Stimmung kehrt ein, fast möchte man an das eigene Vergehen denken, an den Tod ganz allgemein und gleichzeitig an die Erlösung des Fleisches. Obwohl der Künstler mit sämtlichen Tabus bricht, bergen seine Aktionen viel Muse, Konzentration und kommen dem Ursprung allen Lebens sehr nahe. Wie eine Befreiung der Seele betrachtet man am Ende die aufgespannten, übergroßen weißen Gewänder, die Gemälde und die fertige Installation mit altarähnlichem Aufbau.
Hermann Nitschs Werk ist jedoch nicht nur in Rot gehalten. Seine seit 1989 stetige Auseinandersetzung mit Farbe per se ließ den Künstler mittels seiner Schüttaktionen Bilder in Blau, Violett, Gelb, Orange und Grün schaffen. Im Auferstehungszyklus I und II vom Jahre 2000 birgt das Licht die Quelle des Lebens, der Natur und ihren Farben. Über seine weißen Gewänder sagt der Künstler: „freut euch, frohlockt und jubelt, weil die zeit erfüllt ist, dass ich mein gewand anziehe, das mir von anfang an bereitet ist. ich werde mein weisses gewand beflecken mit nassfeuchten, purpurtraubigen blutstropfen. ölige, fette, fruchtfleischrote blutstropfen und blutstinkende, feuchte schweissflecken tränken das garn des kleides. schweiss- und urinnass vom blut durchschwitzt ist mein winzerkleid.“
Schüttbilder werden auch mit Blut verschmierten Gewändern, christlichen Symbolen und Talaren als Collage auf Leinwänden hergestellt. Alles erinnert an die Aktion, die verschiedenen Abläufe und die genaue Konzeption, in welcher Reihenfolge die Aktion angelegt ist und welche Relikte übrigbleiben. Hermann Nitsch nimmt in der zeitgenössischen Kunst eine Sonderstellung ein. Niemand sonst hat sich derart intensiv mit der Opferung von Tieren in der Kunst beschäftigt und dies als ein Kunstspektakel durch ein inszeniertes Konzept mit fantastischen Gemälden und Installationen hervorgebracht. Der ekstatische Umgang und die Durchführung der Aktionen vermitteln eine höchst intensive Ausstrahlung und Auseinandersetzung mit den Weltreligionen, dem Menschen und seinem Denken sowie der Endlichkeit unseres Seins. Es kommt einer Läuterung gleich, in welcher der Mensch sich reinigt, wandelt und neu zum Leben kehrt. In diesem Sinne zum 80. Geburtstag die besten Wünsche.