Paul Wunderlich
Er war ein weltläufiger, belesener und überhaupt intellektueller Künstler, stets nachdenklich und bestrebt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Seine reichen Gaben und die Energie, die er für deren Umsetzung aufwandte, führten dazu, dass er ein Wissender und dazu auch ein Könner war. Fragen des Handwerks haben ihne lebenslang beschäftigt.
Bereits im Studium wurde ihm die Leitung der Druckwerkstatt an der Hamburger Kunsthochschule anvertraut. Nolde und Kokoschka gaben dem jungen Wunderlich Druckaufträge. Er brachte Horst Janssen das Radieren bei, machte dann aber die Lithographie zu seiner Domäne. Hier gelangen ihm bedeutende technische Fortschritte, von der Farbintensität bis zur Mehrfarbigkeit auf einer Druckplatte (Stein) und der malerischen Verbindung fein abgestimmter Farben.
Für seine Graphiken erhielt er weltweit Preise, und bis zuletzt experimentierte er mit seinem Drucker Ernst Hancke an Möglichkeiten, Dreidimensionales in der Lithographie darzustellen.
Dabei wusste er genau, dass das Handwerk kein Selbstzweck ist, sondern der Umsetzung seiner künstlerischen Imagination zu dienen hat. In die Nachkriegszeit hineingeworfen, versuchte er sich in der Malerei zunächst an abstrakt-tachistischen Kompositionen, wie sie in der Mitte der 1950er Jahre als fortschrittlich galten. Bald bemerkte er die Grenzen dieser ästhetischen Kunst, die in der Unverbindlichkeit ihrer Inhalte liegen. Er machte sich auf einen bemerkenswerten Weg, die mit dieser Entwicklung aufgegebene Figürlichkeit mit innovativen Mitteln wiederzuerlangen. 1959 fiel er mit einer Reihe von Gemälden zum Widerstand am 20. Juli 1944 auf, ein Thema, das er auch in Lithographien darstellte. Nicht nur die beschädigte Figur wie in jenem Zyklus beschäftigte ihn, sondern auch die von erotischer Kraft vital angetriebene. Das ist auf dem Gemälde „Zwei Profile“ von 1964, das von seiner Auseinandersetzung mit Philip Otto Runges „Morgen“ formal angeregt wurde, ebenso zu sehen wie in der Lithographie „Der Engel und die Wölfin“ von 1966. Hier wird der Eros als Grundantrieb geradezu personifiziert, denn der Engel kann erst durch seine Vereinigung mit der Wölfin, die nicht von ungefähr an die römische Lupa erinnert, zum Himmel auffliegen.
Paul Wunderlich hat sich, wie vor ihm nur die Bauhaus-Künstler, der Gestaltung nahezu des gesamten Lebensbereichs zugewendet. Wie diesen erschien ihm unser Alltagsdesign nicht mehr angemessen geformt. So machte er sich in den 1980er Jahren daran, Geschirr zu entwerfen, was zunächst zu dieser nashornartigen Teekanne von 1985 führte, die wie auch sein späteres Geschirr „Mythos“ und das Besteck „Fabula“ um das surreale Element der Feder ergänzt ist.
An Wunderlichs Schmuckproduktion ist bemerkenswert, dass er sowohl hochkostbare Unikate entwarf („Decolletée, 1979), als auch einfache Auflagenproduktionen in Silber oder Kunststoff (Polymer) schuf. Die Zeichnung zeigt, dass er präzise wie ein Architekt vorging und den Kettenanhänger sehr genau im Blick auf den Körper der Trägerin konzipierte. Diese Zeichnung belegt ein Charakteristikum seiner gesamten Arbeit, das in der Eleganz und Flüssigkeit der Form liegt. Wunderlich ist darin ein spätzeitlicher Künstler, dass er die Formen aufs Äußerste überdehnen kann, dabei aber stets ein sicheres Maß einhält. Diese Überdehnung ist allerdings nicht mehr zu steigern – daran sind seine Schüler und Nachahmer immer gescheitert. Die Kunst von Paul Wunderlich ist in sich vollendet, aber nicht noch weiter zu entwickeln oder zu übertreffen.
Die Welt der Druckgraphik in Hamburg war zwischen den Freunden Janssen und Wunderlich aufgeteilt, indem Janssen die Radierung, Wunderlich die Lithographie bevorzugte. Nachdem Janssen ab 1985 stärker an Lithographien, auch mit Farbsteinen, arbeitete, fühlte sich Wunderlich – und zumal nach dem Tod des Freundes 1995 – an diese Abmachung nicht mehr gebunden. 1999 begann er eine große Werkgruppe mit Kaltnadelradierungen, die in exquisiten kleinen Auflagen gedruckt wurden. Hier kommt zu der Ästhetik der Figuren- und Formenerfindungen diejenige des Strichs hinzu, denn der von der ritzenden Nadel in der Druckplatte aufgeworfene Grat druckt die Farbe mit und gibt der Linie ein atmosphärisches Vibrieren, das zusammen mit dem so genannten Plattenton den Blättern ihren hohen Reiz verschafft. In dem sich vereinigenden Liebespaar von 2003 sind es die wie elektrische Schwingungen im Kopf des Mannes (ein Selbstbildnis!) vibrierenden Linien, die wie Spermien fließenden Muster seines Kleids und die hingegeben flutenden vitalen Haare der Frau, die dem Blatt zusammen mit der Innigkeit von Blick und Handgebärde seinen Sinn geben.
Ab 1968 entstand das bildhauerische und plastische Werk Wunderlichs, vor allem als Bronzen, die er in Gips modellierte und in Bronze mit genauen Vorstellungen von Oberfläche und Patina gießen ließ. Als Symbol von Mann und Frau finden wir immer wieder sein Selbstbildnis und das Portrait seiner Frau Karin Székessy. Dabei ist der Mann in der Regel der Unterlegene, der Bedürftige oder sogar Lädierte, der von der blühenden Frau abhängt. So auch bei der Gruppe von 2006 „Fragesteller“. Die endlos langen Beine setzen sich, unterbrochen von dem Block des Oberkörpers mit Anzug und Krawatte, in dem in die Höhe aufwachsenden Arm fort, die Dringlichkeit des Anliegens unterstreichend. Dessen Zeigefinger folgt der Blick der Ovalform des Kopfprofils. Hier wird die Frage gestellt, welche die wissende Seherin Pythia aus dem griechischen Mythos mit ihrer Schönheit und der offenen Gebärde der Arme beantwortet.
In seinen letzten Lebensjahren hat sich Paul Wunderlich wiederum eine neue Domäne künstlerischen Ausdrucks erschlossen, nicht von ungefähr der Ästhetik der Kaltnadelradierung benachbart: In einem Schaffensschub entstand eine große Gruppe von Pastellzeichnungen in unterschiedlichen Formaten, darunter die Illustrationen zu Thomas Manns „Mario und derZauberer“. Ein Zauberthema scheint auch diese „Patientin“ zu umgeben, welche von dem sich herabbeugenden Therapeuten in ein Zauberlicht getaucht und hinangezogen wird, neben dem das Deckenlicht nur eine schwache Rolle spielt.
Die späte Zeichnung „Paul und Karin“ von 2007, die er seiner Frau widmete, zeigt nochmals das große Thema des in inniger Liebe verbundenen Paares, dem die Vergänglichkeit der nagenden Zeit ebenso wenig wie die Widrigkeit einer den Mann besetzenden Kröte etwas anhaben kann. Liebe und Kunst, das wusste dieser Künstler genau, sind von Dauer und lassen einen Anteil Ewigkeit spüren.