Kunst als Schlüssel zur Heilung
Ein ursprüglich in der Zusammenarbeit von Neurologie und Psychologie entwickeltes Gerät zur Beeinflussung des Gehirns avanciert zum Kunstobjekt oder korrekter ausgedruckt: eröffnet eine vollkommen neue und die wohl unmittelbarste Kunsterfahrung überhaupt.
Die futuristisch anmutende Lampe steht ein wenig unscheinbar in einem schwarzen, gerade zwei mal zwei Meter großen Zelt auf der „Art Beijing“, Pekings bedeutendster Messe für zeitgenössische Kunst. Ob dies das Kunstobjekt sei, möchte eine neugierige Besucherin wissen. „Try it“, lädt sie der Standbetreuer mit verschmitztem Lächeln ein. Die Dame nimmt vor der runden Lampe mit ihren acht LEDs und dem zentralen Halogenlicht Platz, schließt wie angewiesen die Augen und wartet gespannt. Langsam blendet das warme Licht in der Mitte auf, die kreuzförmig angeordneten LEDs beginnen, rhythmisch zu pulsieren. Die Gesichtszüge der Besucherin lockern sich, der Mund öffnet sich zu einem stummen Erstaunen. Nach zehn Minuten versiegt das Licht. Erst auf eine Berührung hin öffnet sie die Augen, kehrt wie aus tiefer Trance zurück. „Wow, I’ve never seen anything as beautiful as this.“ Leicht benommen bedankt sie sich, verspricht wiederzukommen, müsse erst nachdenken.
„Wunderlampe aus Tirol“
Die „Wunderlampe“, die das Pekinger Kunstpublikum begeistert, stammt aus Nordtirol. Im Innstädtchen Kufstein entwickelte der Psychologe und Psychotherapeut Dr. Engelbert Winkler gemeinsam mit dem Neurologen Dr. Dirk Proeckl dieses Gerät, das unter dem Namen „Lucia N°03“ als Neurostimulator international geschützt und patentiert ist. Ursprünglich sollte Lucia N°03 und die durch sie ausgelöste „hypnagoge Lichterfahrung“ Menschen mit psychischen Problemen helfen, indem die starken Lichtreize das Gehirn des Patienten in einen anderen Modus versetzen. „Das unmittelbare Erfahren eines solchen veränderten Bewusstseinszustandes bewirkt eine Veränderung der inneren Einstellung“, erklärt dazu Winkler, „im Sinne Viktor Frankls nähert man sich wieder dem eigenen, jedem uns innewohnenden gesunden Kern.“
„Blockaden lösen – Kreativität steigern“
Als Lucia N°03 vor fünf Jahren einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde, entwickelte sich rasch ein wachsendes Interesse ganz anderer Zielgruppen. Architekten, Designer, Grafiker, Musiker – kreative Berufsgruppen aller Art scheinen von den bunten, überwältigenden Lichtwelten, die Lucia N°03 eröffnet, zu profitieren. Das kreativitätsfördernde Potential der hypnagogen Lichterfahrung belegte zuletzt eine einjährige Studie des Münchner Hochschulprofessors Dr. Ralph Buchner. Ein Jahr ließ er Studenten seiner Design-Vorlesung an der Hochschule für angewandte Technologien mit Lucia N°03 experimentieren und ihre Erlebnisse zu Papier bringen. Das Ergebnis überraschte Buchner, der zusammenfassend berichtet: „Während meiner 15-jährigen Lehrpraxis habe ich kein Projektseminar mit vergleichbaren Ergebnissen, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht geleitet. Nie zuvor waren Studierende mit so großer Begeisterung kontinuierlich über das ganze Semester am Gestalten.“ Für Lucia N°03-Erfinder Engelbert Winkler erklärt sich die Steigerung der Kreativität darin, dass sich Denkblockaden – z.B. antrainierte einengende Interpretationsmuster – im veränderten Bewusstseinszustand auflösen. Seit jeher suchen Menschen solche Bewusstseinszustände auf, um Antworten zu erhalten, den Geist zu reinigen oder für neue Ideen zu befreien, denke man z.B. an das Mysterium des Tempelschlafs im antiken Griechenland, schamanische Riten oder den Konsum von psychotropen Substanzen.
„NeuroArt – vom Konsument zum Künstler“
Die Begeisterung, die das Erlebnis unter der Lampe nunmehr auf Kunstmessen, Festivals und Events auslöst, besteht gemäß Winkler im schöpferischen Akt des Betrachters selbst. Durch den Lichtreiz ausgelöst, beginnt das Gehirn des Betrachters, unvorhersehbare, jedoch höchst ästhetische Bildfolgen zu erzeugen, beschreibbar als ein Erlebnis von Musik, wobei Lichtfolgen an die Stelle harmonischer Tonreihen treten. Musik geschaffen aus Licht. Dass es sich dabei um echte Eigenleistungen des Gehirns handelt, belegen aktuelle Erkenntnisse der Universität Sussex (GB), wo Neuropsychiater Dr. David Schwartzman seit zwei Jahren mit Lucia N°03 experimentiert. Für Winkler besteht in der Licht-Erfahrung mittels Lucia N°03 ein evolutionärer Schritt der Entwicklung der Kunst an sich. „Jahrtausende bestand Kunst darin, dass ein Künstler ein Kunstwerk erschafft. Es hat also jemanden gebraucht, der etwas machte, und in der Folge ein Publikum, das dieses betrachtete. Der Akt des Schaffens und der Akt des Konsumierens waren getrennt. Dadurch konnten auch die Intentionen des Schaffenden und des Konsumierenden voneinander abweichen, worin sich wohl der Grund für die häufigen Diskussionen, ob etwas Kunst sei oder nicht, findet.“
Der nächste Schritt, so Winkler, bestand darin, dass Künstler ihre Kunstwerke als individuelle Antworten einer Auseinandersetzung mit etwas – z.B. einem zeitgeschichtlichen Ereignis – hervorbrachten. Als Beispiel sei an Pablo Picassos „Guernica“ gedacht. Erst aus der Wirkung mit der Auseinandersetzung des Geschehens ergab sich das Kunstwerk. Das Publikum muss zum Teil des Schaffensprozesses werden, will es die Arbeit als Kunst akzeptieren. Somit begann sich der Kunstbegriff von den Impressionisten an sukzessive zu erweitern. Wer abstrakte Kunst als solche konsumiert, müsse sich genauso auf das Kunstwerk einlassen, wie es der Künstler im Zuge des Schaffensprozesses getan hat. Es entsteht Kommunikation zwischen Künstler und Rezipienten. Der nächste logische Schritt, den erst moderne Technik ermöglichte, erfolgte dadurch, dass aus zwei Personen – dem Schaffenden und dem Konsumenten – eine wird. „Beim Erleben unserer Lucia N°03, wir nennen es NeuroArt, verschmelzen diese miteinander. Das Gehirn des Betrachters erschafft sein eigenes Kunstwerk im Moment des Betrachtens. Das beweist sich darin, dass jede Sitzung unter Lucia N°03 – auch bei völlig gleichen Einstellungen – von der gleichen Person anders erlebt wird und auch beeinflusst werden kann. Das ästhetische Erlebnis – gleichzusetzen mit Kunstgenuss – entsteht so in jedem Augenblick aufs Neue, zeitunabhängig und unreproduzierbar“, verspricht Winkler.
„Kunst als Schlüssel zur Heilung“
Mit dieser Entwicklung nähere sich Kunst auch wieder ihrer ursprünglichen Funktion im Sinne eines Heilmittels bzw. Mediums für spirituelle Erfahrung an. Hauptauftraggeber der Klassischen Kunst waren seit jeher Religionen. Ihnen diente sie als Erzeuger bestimmter Stimmungen, vergleichbar mit Psychedelika oder den griechischen Mysterienkulterfahrungen. Das ästhetisch Berührende eröffnete die wirkungsvolle spirituelle Erfahrung, die individuell zur Heilungserfahrung führte. Solche Heilungen zeigten sich entweder als instellungsänderungen, vergleichsweise zur Existenzanalyse, oder sogar als Spontanremissionen, aber niemals als vorhersagbares Ereignis. Kunst erhält so im Zuge der NeuroArt therapeutisches Potential. Sie hilft – wie es der amerikanische Psychologe Milton H. Erickson von Therapeuten forderte – in das eigene Sein so weit vorzudringen, dass jene Bereiche erreicht werden, wo im Frankl’schen Sinne die eigene, innere Gesundheit stets vorhanden ist. Diesen Bereich zu erreichen, bedeutet, das therapeutische Ziel zu erfüllen. „Die Grundidee heißt, Schönheit zugänglich und erlebbar zu machen“, erklärt Winkler, „das Erlebnis von Schönheit, noch dazu, wenn sie so fundamental und selbst erschaffen wird, hat die höchste Wirksamkeit auf uns als bewusste Wesen und generiert Gesundheit.“